So gehört sich das für einen guten Roman: Eine Szene, die den Leser in medias res führt. Alle Fäden der vorangegangenen und folgenden Handlung führen auf sie hin oder gehen von ihr aus. Sterbezimmer, immer eine beklemmende Situation. Hier wird sie gleich zur Groteske: Unterm Kreuz das "ausgemergelte" Gesicht der toten Mutter ist rosa, rot und violett geschminkt. Was wird aus der guten alten Mutter nach ihrem Tod gemacht? In welchem Licht oder in welcher Farbe soll sie sich für die fünf Kinder jeweils zeigen? Sie, die durch den Tod Annas aus ihrem jeweiligen Alltag gerissen, nun im Sterbezimmer zusammenkommen, um im Abschied in ihren Erinnerungen ihr Verhältnis zur Mutter zu rekapitulieren. Für alle spiegelt sich ihre eigene Entwicklung wider: Was sollte aus mir werden, was wollte ich aus mir machen? Was ist aus mir geworden? Wie hat mich die Mutter behandelt? Was hat sie verhindert? Wie hat sie mich gefördert? Hat sie die anderen mehr geliebt als mich? Jeder schlägt eine andere Seite des Buches "Anna" auf, nämlich die, auf der über ihn etwas von Anna steht. Kein Wunder, dass Annas Gesicht so viele Farben hat.
Am Erbe soll sich zeigen, wie groß die Liebe der Mutter war. Diese Verquickung von Trauer um eine geliebte Mutter mit der Bemessung der Erbanteile lässt jeden Erbfall zum Horror werden. In den moralischen Vorwürfen der erwachsenen Geschwister wiederholt sich ihr Verhältnis in der Kindheit: Das Buhlen um die Liebe der Mutter von damals wird jetzt der Anspruch auf moralische Vergeltung in Form von - Geld.
Jeder, der so eine Erbgeschichte selbst erlebt oder von anderen gehört hat, erkennt das Prinzip im "Krieg der zu kurz Gekommenen" sofort wieder. Den "Franz" gibt es im Streit ums Erbe immer. Jede Gemeinheit aus der Kindheit kommt auf den Tisch, jede Bevorzugung eines anderen Geschwisters wird noch einmal erlebt und als Nachteil in der eigenen Entwicklung verrechnet. Dem Autor gelingt es, in den oft abstrusen, zugleich schlüssigen Charakteren die typischen Parteiungen eines solchen Krieges glaubwürdig darzustellen.
Wie Oskar Maria Graf in seinem Buch "Das Leben meiner Mutter" ein Stück bayerische Zeitgeschichte anhand eines Einzelschicksals dargestellt hat, so versetzt der Autor den Leser in die Schweiz der ersten Hälfte und mit dem zweiten Handlungsstrang in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der alle Gefühle erdrückende Katholizismus bildet den engen Rahmen einer lebenslustigen, aber gottesfürchtigen Frau. Vitalität ist für sie Kinderkriegen, Erziehung ist für sie Züchtigen. Wunderbar authentisch wirken da Annas Überlegungen in Form von Auszügen aus ihrem Briefverkehr und Tagebuch. Herrlich der Brief ihres Mannes, des Buchhalters Johnny, der die Details seiner Velotour über die Alpen auf einem Durchschlagpapier akribisch auflistet. All die originalen Ausdrücke wie "Klösterli" oder "Negerli" lassen die Schweizer Familiengeschichte auch sprachlich genießen.