Linda ist eine Frau Ende Vierzig, die mit ihrem Mann Richard, der 17jährigen gemeinsamen Tochter Sonja und zeitweise auch mit Richards Kindern in Leipzig lebt. Eine Patchwork-Familie mit allen Höhen und Tiefen. Doch das erfahren wir alles erst, als Linda sich bereits in ihre Trauer und ihre Erinnerungen vergraben hat, denn der Roman setzt später ein.
Er beginnt auch nicht mit dem Unfalltod ihrer Tochter, dem schrecklichsten und unvorstellbarsten Wendepunkt ihres Lebens.
Und dann starb sie doch. [] Daraus leitet sich seither alles ab. Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann. S.41
Er beginnt zwei Jahre danach, nach Jahren der Trauer, des Rückzugs, und einer überstandenen Krebserkrankung. Er beginnt da, wo alle anderen sich anschicken, dem Leben langsam wieder eine Richtung zu geben. Als selbst Richard, der einzige, mit dem sie ihr Leid wirklich teilen konnte, davon zu reden beginnt, dass es Zeit sei, nach vorn zu schauen, kappt sie alle Seile und flieht in ein altes Haus auf dem Land. In diesem Niemandsland hinter einem großen Tor findet sie den idealen Raum, dem Weiterleben zu entgehen und ihre Erinnerungen zu hegen. Aus der Routine immer gleicher Tätigkeiten und durch zaghafte Begegnungen in ihrer neuen Nachbarschaft gewinnt sie langsam aber auch Halt und eine einsame Ruhe, in die sie sich fallen lassen kann.
und wenn das Begreifen beginnt, liegen die Tage vor mir wie endlose Weiten, wie Wüsten oder Ozeane oder Berge mit umwölkten Gipfeln. Dann reiße ich die Fenster auf, schnappe nach Luft und frage mich wieder und wieder: Wozu noch ein weiterer Tag? S.196
Ein drückender Stoff, der sich dunkel in mir ausbreitet, die zerrissene Protagonistin ganz nah heranholt, eine Frauenfigur mit Ecken, Kanten und mit ihrem großen alles verzehrenden Schmerz. Warum erzählt Daniela Krien uns davon? Ich glaube, um eine sehr individuelle Entwicklung spürbar und Mut zu machen, sich kollektiven Erwartungen entgegenzusetzen. Wie kann eine Gesellschaft, die sich mit dem Thema Tod und Trauer eigentlich gar nicht offen auseinandersetzt, Normen und Regeln für angemessenes Verhalten und eine durchschnittliche Zeit der Trauer aufstellen?
Trotz oder gerade wegen der Düsternis spüre ich auch Freude. Freude, wie Linda es geschehen lässt, sich ins Dunkle fallen zu lassen, um irgendwann zu spüren, dass da ein kleiner Lufthauch ist, der sie trägt. Das dritte Leben.
Ich bin beeindruckt und ergriffen von dieser schonungslosen und zutiefst wahrhaftigen Lektüre, mochte sie gar nicht mehr aus der Hand legen und sie unbedingt empfehlen.
Letztlich sind doch alle Familien gleich. Alle haben sie ihre Lebenden und ihre Toten, ihre Geheimnisse und ihr Leid und dieses eingefrorene kurze Fotoglück, von dem keiner mehr weiß, ob es echt war. S.35