Besprechung vom 28.08.2024
Lotse ohne Schiff
Thilo Sarrazin stellt sein neues Buch vor
Wie ein Prophet sieht er nicht aus. Thilo Sarrazin trägt Berufskleidung, als er die Bühne betritt: dunkelgrauen Anzug, offenes Hemd. Würde man ihn nach seinem Beruf fragen, könnte er antworten: Mahner, Warner, Sachbuchbestsellerautor. Aber vom Habitus her ist er noch immer, was er lange Zeit war: Finanzpolitiker.
Sarrazin stellt in Berlin sein neues Buch vor: "Deutschland auf der schiefen Bahn". Es ist die achte Fortsetzung von "Deutschland schafft sich ab" und die erste, in der Deutschland wieder im Titel steht. Es geht, wie bisher, ums Ganze, aber diesmal auch aus der Perspektive der Rückschau. Gleich im zweiten Satz kommt der Band von 2010 vor. Dessen Prognosen, sagt Sarrazin, seien "in der Summe genau so" eingetroffen, nur manche in noch schlimmerer Form. Aber das neue Buch wolle Mut machen, indem es "verschiedene Zukünfte" entwerfe. Sein Blick auf die Gegenwart impliziere "nicht unbedingt einen 'Untergang Deutschlands'", heißt es im Vorwort, aber "ein relatives Zurückfallen in der Welt" sei "ziemlich sicher". Relativ, ziemlich, nicht unbedingt, das lässt einiges offen.
Vor vierzehn Jahren, als Sarrazin am selben Ort auftrat, protestierten Gewerkschaftler vor dem Haus der Bundespressekonferenz, und die Vorabdrucke aus "Deutschland schafft sich ab" hatten einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Diesmal stört kein Lüftchen den Frieden der Buchpremiere, was auch daran liegen mag, dass Sarrazin das Aufregerthema von damals, die Genetik, im neuen Band rundweg meidet. Stattdessen treibt er weltgeschichtliche Betrachtungen: "Ohne Martin Luther wäre es im 16. Jahrhundert wahrscheinlich nicht zur Glaubensspaltung im Abendland gekommen. Auch der Dreißigjährige Krieg hätte so nicht stattgefunden."
Ohne Thilo Sarrazin, das ist sicher, fänden Sätze wie dieser nicht statt: "Dreißig Millionen nicht geborene Deutsche seit 1964 wurden durch Einwanderer ersetzt." Die statistische Spekulation ist Sarrazins Lieblingsspielzeug. Ohne Zuwanderung, stellt er sich vor, gäbe es bei gleichbleibender Geburtenrate in hundertfünfzig Jahren nur noch vier Millionen Deutsche - so viele wie zur Zeit Ottos des Großen. "Dann wäre auch wieder genügend Platz für Wölfe und anderes Getier." Im tiefsten Herzen ist der Finanzpolitiker ein Naturfreund.
Aber hier ist Berlin, das Jahr 2024, und darum muss der Autor der "Schiefen Bahn" eine aktuelle Fußnote setzen. Die Messerattacke von Solingen, sagt Sarrazin, werfe ein grelles Licht "auf die von Migration aufgeworfenen Kriminalitätsfragen", der Anteil von Gewaltkriminellen mit Migrationshintergrund, auch solchen mit deutschem Pass, liege in Wahrheit bei sechzig Prozent ("leider gibt es dazu keine Statistik"). Dann wird er persönlich: "Als Pfadfinder, elf Jahre alt, war ich stolz auf mein mindestens zwanzig Zentimeter langes Fahrtenmesser." Vielleicht sollte man alle Bücher Sarrazins als Verteidigung der Kindheit lesen, einer Welt, in der Tüchtigkeit und Sparsamkeit als Kardinaltugenden und häufige Überstunden als Ehrensache galten.
Aber diese Welt ist dahin, so wie die Welt vor Martin Luther, Julius Cäsar und dem Alten Fritz, und so haben die Phantasien des Amateurglobalhistorikers Sarrazin, sobald er die Schutzzone des Statistischen verlässt, etwas von Zinnsoldatengefechten eines Elfjährigen, der bald 80 wird. Scharf gestellt wird seine Optik erst, wenn er, wie in der Fragerunde vor der Presse, Schuldkärtchen verteilt. Angela Merkel ist schuld am Aufstieg der AfD. Das "Bevölkerungswachstum außerhalb Europas" ist schuld am Klimawandel. Die etablierten Parteien sind schuld an ihrem Niedergang, weil sie, "anstatt sich daran abzuarbeiten, wie schrecklich der Bernd (!) Höcke ist", das Migrationsproblem lösen müssen. Als Vorbilder für das, was er ihnen rät - Grenzkontrollen, Pushbacks, extraterritoriale Asylzentren, Abschiebungen "unter militärischem Schutz" -, nennt Sarrazin Dänemark und Finnland. Nach eineinhalb Stunden und dreihundert Textseiten ist das ein allzu erwartbares Resultat.
Neben seinem Verleger Michael Fleissner wirkt Sarrazin wie ein Lotse, der an der Hafenmauer steht und sich wundert, dass ihn keins der großen Schiffe an Bord nimmt. Doch alles hat seine Zeit, und Thilo Sarrazins historische Stunde schlug vor vierzehn Jahren. Die politische Glaubensspaltung hat stattgefunden, aber Sarrazin war nicht ihr Luther, sondern nur ihr publizistisches Beiboot. So bleibt ihm nur, sein Untergangs-Garn weiterzuspinnen, mit Zahlen, Tabellen, Statistiken und offenem Hemd. ANDREAS KILB
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.