Besprechung vom 01.03.2025
Alles begann in der Dunkelheit
Vom akustischen Naturalismus zu verkopften Experimenten: Günter Peters führt durch hundert Jahre Hörspiel.
Eine Besuchergruppe ist unter Tage, um die Arbeitswelt der Bergleute kennenzulernen. Plötzlich sind bedrohliche Geräusche im Stollen zu hören, Gestein poltert, das Licht erlischt. Tiefe Finsternis umfängt die Untergrundtouristen. So beginnt das Hörspiel "A Comedy of Danger" von Richard Hughes, das Radio London am Abend des 15. Januars 1924 sendete. Es ist eines der ersten Hörspiele überhaupt, und die Dunkelheit seines Schauplatzes wirft ein Licht auf die Entstehungsbedingungen dieser Kunstform.
Das Radio begann, mit Bertolt Brecht zu sprechen, als eine der "Erfindungen, die nicht bestellt" waren, und auch auf das Hörspiel hatte niemand gewartet. Es musste seine Existenzberechtigung erst unter Beweis stellen. Dies vor allem gegenüber dem Theater und bald auch gegenüber dem neuen Tonfilm. Im Vergleich mit beiden Medien schien das Hörspiel eine aufs bloß Akustische reduzierte Schwundform zu sein. Seine Autoren und Regisseure versetzten die Hörer deshalb in Welten, in denen der Sehsinn nutzlos oder ausgeschaltet ist: Dunkle Stollen, Fahrten durch den Nebel, Zug- und Schiffskatastrophen in der Nacht oder die Blindheit der Protagonisten schufen einen akustischen Naturalismus, der die Bildlosigkeit beglaubigen sollte.
Den Weg des Hörspiels von dieser frühen Kompensationsdramaturgie zu einer eigenständigen, Worte, Musik und Geräusche synthetisierenden Kunstform, die sich heute aller audiovisuellen Konkurrenz zum Trotz einer enormen Popularität erfreut, zeichnet der Literaturwissenschaftler Günter Peters in seiner Geschichte des Hörspiels von den Anfängen bis in die Gegenwart nach. In den Text eingefügt sind Internetlinks, die zu exemplarischen Ausschnitten aus alten und neuen Produktionen führen und die facettenreiche Entwicklung dieses Genres unmittelbar zu Gehör bringen.
Das Buch, so umfang- und faktenreich es ist, fokussiert auf einen, allerdings großen und wesentlichen, Teilbereich. Es geht um das - vornehmlich deutsche - Rundfunkhörspiel, wobei die literarisch oder klangkünstlerisch anspruchsvolleren Produktionen im Vordergrund stehen. Andere Segmente, wie die kommerziellen Jugend- und Unterhaltungshörspiele - von der "Biene Maja" über "Benjamin Blümchen" bis zu "Geisterjäger John Sinclair" -, die mit der Verbreitung des Kassettenrekorders ihren ersten Boom erlebten, finden kaum Berücksichtigung. Umso detaillierter wird der Leser über die dramaturgischen, inhaltlichen und technischen Entwicklungen des Radiohörspiels informiert sowie über die medien- und literaturtheoretischen Reflexionen, die diese neue Kunstgattung von Anfang an begleiteten.
Der erste des in drei Teile gegliederten Buches widmet sich dem Hörspielschaffen der Weimarer Republik. Der Autor beschreibt anschaulich und anhand von vielen Beispielen die große Spannweite, die von konventionellen Theateradaptionen bis zu Projekten reichte, deren spielerisch-experimenteller, das Medium selbst thematisierender Charakter noch heute höchst modern anmutet. Schriftsteller wie Alfred Döblin, Walter Benjamin, Bertolt Brecht oder Friedrich Wolf loteten als Autoren und Theoretiker zugleich die ästhetischen und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten des Hörspiels aus. Kaum noch bekannt außerhalb radiogeschichtlich interessierter Kreise sind Persönlichkeiten wie Hans Flesch und Friedrich Bischoff, die als Rundfunkintendanten, Autoren und Produzenten in Personalunion das Hörspiel mit der Einführung von Szenenwechseln, Überblendungen und reportageartigen Elementen technisch und szenisch weiterentwickelten und ihm in kurzer Zeit eine Fülle neuer Ausdrucksformen erschlossen.
Das "Live-Hörspiel", das heute als innovative Besonderheit gilt, weil es der Sendeform einen Eventcharakter verleiht, war in den Anfangsjahren der studiotechnisch bedingte Standard. Was in die Mikrofone gesprochen wurde, ging direkt über den Äther, denn geeignete Tonbandgeräte für die Aufzeichnung und die dadurch möglich werdende Vorproduktion standen erst vom Ende der Dreißigerjahre an zur Verfügung. Von einigen Hörspielen der Frühzeit gibt es Aufnahmen auf Schellackplatten. Die meisten aber sind nur als Skripte überliefert.
Einen harten Einschnitt brachte die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Etliche der Hörspielpioniere des "Systemrundfunks" wurden entlassen, einige wie Hans Flesch auch inhaftiert. Das Hörspiel unter der NS-Diktatur wird allerdings allzu kursorisch abgehandelt. Peters konzentriert sich hier auf Fred von Hoerschelmann, Günter Eich und Peter Huchel, deren Schriftstellerkarrieren in der Weimarer Republik begonnen hatten und die im nationalsozialistischen Rundfunk mit ihren - zumindest vordergründig unpolitischen - Hörspielen recht erfolgreich waren. Über die sonstige Hörspielproduktion, ihre Rolle für die NS-Propaganda und die politischen Zwänge oder Spielräume ihrer Autoren und Regisseure erfährt man nur wenig. Bei einem Buch, dessen Titel ein zeitlich vollständiges Panorama verspricht, ist das unbefriedigend.
Der zweite Teil der Darstellung umfasst die zwei Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Aufstieg des Fernsehens, in denen das Radio ein Leitmedium war. Dieser Teil der Geschichte setzt ein in den materiellen und moralischen Trümmerlandschaften, für die exemplarisch Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama "Draußen vor der Tür" steht, das am 13. Februar 1947 von Hamburg aus für den Nordwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren führten Autoren wie Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Martin Walser, Wolfgang Hildesheimer, Günter Eich oder der heute weitgehend vergessene Wolfgang Weyrauch das Hörspiel in der Bundesrepublik zu einer neuen Blüte.
Der Literaturbetrieb insgesamt profitierte von den Einnahmemöglichkeiten und dem großen Publikum, das diese Sendeform bot. Seine Popularität verdankte das Hörspiel in jenen Jahren nicht allein dem Umstand, dass die Konkurrenz des Fernsehens als Heimmedium zunächst noch gering war. Sie war auch darin begründet, dass es zwar inhaltlich neue Horizonte eröffnete, seine an Plots orientierten Dialoge aber den Bedürfnissen der Hörerschaft nach Geschichten und dramenhaften Spannungsbögen entsprachen. Traditionell in diesem Sinne war in noch viel stärkerem Maße das Hörspiel der DDR, dessen Autoren und Produzenten der Doktrin des sozialistischen Realismus verpflichtet waren.
In Westdeutschland geriet die Hörspiellandschaft Ende der Sechzigerjahre in Bewegung, als Stimm- und Klangexperimente, Geräuschcollagen und reportageartige Originaltöne zunehmend Einzug in das Hörspiel hielten. Hier lässt Peters den dritten Teil seiner Darstellung beginnen, der bis in die Gegenwart reicht. Diese Phase ist zunächst bestimmt von teilweise scharfen Auseinandersetzungen: Der Avantgarde des "Neuen Hörspiels", bei dem die Autoren neben Sprechern, Komponisten, Toningenieuren und Cuttern nur noch Teil eines Teams von "Hörspielmachern" waren, standen die Anhänger des eher literarischen Hörspiels gegenüber. Sie kritisierten die radiophonen Hörkunstexperimente als verkopft und publikumsfeindlich. Darin trafen sie sich - wenn auch ohne die ideologische Aufladung - mit der Kritik, die in der DDR am "abseitigen, elitären Formalismus" des Neuen Hörspiels in der Bundesrepublik laut wurde.
Allerdings konnten auch in Westdeutschland die radiophonen Innovationen das "erzählende" Hörspiel im Programm und erst recht in der Hörergunst nie verdrängen. Peters verteidigt die Experimente mit einem zutreffenden Argument: Sie brachten neue Ausdrucksformen hervor, die auch auf das populäre Hörspiel zurückwirkten. Etwas von der Experimentierfreude der Siebziger- und Achtzigerjahre täte auch den Hörspielstudios der Gegenwart gut - so darf man Peters' Urteil über die heutige Situation wohl verstehen, wonach "technisch aufwendige, aber ästhetisch eher eindimensionale" Produktionen die Sendeplätze beherrschen.
Diese Bewertung mag man teilen oder auch nicht. In jedem Fall ist Peters' Buch ein kundiger Führer, der Lust macht, sich durch die Geschichte und Gegenwart dieser audioliterarischen Grenzgängergattung zu hören. Mediatheken und Streamingdienste bieten dafür bessere Möglichkeiten als je zuvor. Und ja, auch vor dem Radio sitzend kann man noch Hörspiele hören. Wie vor hundert Jahren. WOLFGANG KRISCHKE
Günter Peters: "Hundert Jahre Hörspiel". Geschichte und Geschichten.
Brill Fink Verlag, Paderborn 2024. 792 S., geb.
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