Besprechung vom 12.10.2024
Lakonie im Kinderzimmerhafen
Große Kunst im Bilderbuch: Der nicht nur in Schweden berühmte Maler Jockum Nordström verdutzt mit "Sailor und Pekka".
Von Stefan Trinks
Von Stefan Trinks
Was gibt es Besseres als ein Zweieinhalb-Generationen-Buch, das gleichermaßen Kleinkinder mit seiner knäckebrottrockenen Lakonie wie auch Teens und Erwachsene in den Bann schlägt mit seinem Anspielungsreichtum zum Auffinden der vielen lecker eingebackenen Werke moderner Kunst? Die erzählte Geschichte von "Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt" ist schnell geschildert: Ein popeyehafter Seebär namens "Sailor" mit blauer Mütze auf dem ansonsten kahlen Schädel strolcht durch die Stadt - mit seinem Hund Pekka, der einen Anzug trägt, doch nicht aufrecht geht, sondern auf vier Pfoten dackelt.
Der einigermaßen kafkaeske Grund für den Ausflug: "Eines Morgens, als Sailor sich anziehen wollte, war sein Pullover weg." Der Matrose findet sich vor seinem Bett zu einem ungeheuer unbekleideten Seemann verwandelt. Eine reine Umrissfigur in schwarzer Hose mit nur von Hosenträgern überspanntem, nackt-weißem Oberkörper steht er vor der Kommode, wobei die einzigen Farben sein blaues Barett und das fahlgelbe Möbel sind, das ihm frech die leere Lade wie eine Zunge herausstreckt.
Ein neuer Pullover muss her, und der eben noch Zeitung lesende Hund beschließt, seinen Freund (von Herrchen kann keine Rede sein, denn in seinem schwedisch-blauen Anzug mit weißem Hemd darunter wirkt er weit eleganter als Sailor) in die Stadt zu begleiten, um sich die Haare schneiden zu lassen. Denn natürlich liebt Pekka es, Auto zu fahren, und einen Moment lang ist vor dem Umblättern auf die nächste Seite gar nicht zu entscheiden, ob dieses "Tier von Welt" das Fahrzeug selbst steuern wird oder Sailor.
Jedoch gibt der Oldtimer, der einen schönen Kontrast zu Sailors und Pekkas Bauhaus-Wohngebäude mit dem Garagentor als einfachem blauen Mondrian- Farbfeld darin bildet, nach wenigen Metern den Geist auf. Die beiden entscheiden sich kurzerhand für einen Spaziergang entlang des Meeres, treffen unterwegs einen traurigen Clown, dem seine Trompete abhandengekommen ist, Frau Jackson, das Ehepaar Hase, einen rauchenden Biber, der sie gut gelaunt mit "Moinsen!" begrüßt, und schließlich Möbelpacker, bevor sie in den Kleiderladen respektive Friseursalon verschwinden, die in Fünfzigerjahre-Optik auf einer Doppelseite direkt nebeneinanderstehen und wie eine frühe Pop-Art-Collage von Roy Lichtenstein oder Richard Hamilton erscheinen.
Die Anprobe des neuen Pullovers gestaltet sich anfangs schwierig, und Sailor wirkt dabei ungelenk wie eine Figur aus Oskar Schlemmers "Triadischem Ballett", doch ist das perfekte Kleidungsstück bald gefunden. Vor lauter Freude über den Kleider-Coup entscheidet der Seemann kurzerhand, sich im Hafen ein Tattoo stechen zu lassen. Nicht nur aber hat der Affe als Haustier von "Tattoo Jack" die vermisste Trompete des Clowns im Park gefunden, auch das havarierte Auto kann abgeschleppt werden, und etliche weitere Stränge der Erzählung finden zu einem glücklichen Ende. Die bis hierhin kindlich-anarchisch springenden Ereignisse gerinnen gegen Ende plötzlich zu fester Form.
Als Experiment Kindern von sechs bis sechzehn vorgelegt, schwanken die Reaktionen zwischen Freude an dem unerwachsenen Erwachsenen Sailor und dem lustigen Hund bei der Sechsjährigen und der Verwunderung des Sechzehnjährigen über die Edward-Hopper-hafte Atmosphäre der Stadt, die stets rasant verkürzten Wagen und die raffiniert mondrianhafte Aufteilung etlicher Seiten in Form eines ungleichmäßigen Setzkasten-Rasters. Auch die für die Palmbäume und die ausgeschnittenen Häuser und Autos verwendete Collage-Technik übt einen großen Reiz auf Jung, Mittelalt und Alt aus, weil wiederholt mit den Fingern prüfend über die Seite gefahren wird, ob die Objekte vor meist weißem Hintergrund nicht doch von Hand aufgeklebt wurden.
Tatsächlich schneidet Nordström zuerst Formen, um dann erst diese Papier-Konturen mit Linien und Aquarellfarbe zu füllen, die häufig noch gewässert werden. Die Häuser und die oft aus der Vogelperspektive gezeigte Stadt mit ihrem Hafen erzeugen durch ihre Ästhetik des "International Style" und die pastellige Farbigkeit eine anheimelnde mediterrane Atmosphäre der Fünfziger. Durch modernere Hochhäuser im Hintergrund und die von schwedischer Folklorekunst, Outsider-Art und Jean de Brunhoffs "Babar" inspirierten, zeitlosen Figuren wird aber klar, dass er eine Überzeitlichkeit der Bilder anstrebt.
Oder wie der deutsche Illustrator ATAK, beileibe auch kein Unbekannter in der Welt der bewegten Linien, sein Damaskuserlebnis in Bezug auf Nordström im Nachwort beschreibt: "So etwas Seltsames hatte ich nie zuvor gesehen. Es schien, als ob ein Zwölfjähriger diese Bilder gezeichnet hätte. Doch auf einigen Seiten wirkten die Abbildungen wie die eines Architekturstudenten: Viel zu gekonnt für einen kleinen Jungen. Andere Buchseiten mit Scherenschnitten schienen wiederum von einem Jungen im Vorschulalter zu stammen. Das Buch war wie die Welt eines Kindes, das wie nebenbei eine Autozeichnung hinwarf, an der wirklich, aber auch wirklich jede Perspektive stimmte." Aufmerksam auf diesen Surrealisten des Buntstifts wurde ATAK durch eine Anzeige in einem schwedischen Zug-Magazin, die Nordströms Bücher mit der Schlagzeile "Haftiga Bilderböcker!" bewarb, also etwa so viel wie "Tolle Bilderbücher". Das ist zweifelsohne keine Übertreibung.
Denn der Schöpfer dieses nur scheinbar willkürlichen Plots ist wahrlich kein Anonymus in der Kunstwelt - vielmehr ist der inzwischen sechzigjährige Jockum Nordström einer der populärsten modernen Künstler Skandinaviens, bei dem viele Motive aus "Sailor und Pekka" auch in seinen Bildern für Große wiederkehren: Kleinarchitekturen in Symbolperspektive, kantige Käuze wie aus dem Zirkus, Tattoo-Motive wie Rosen und Anker, Farb-Kuben. Unter vielen anderen Museen besitzen das Centre Pompidou in Paris, das Cleveland Museum of Art in Ohio, das San Francisco Museum of Modern Art und das Moderna Museet in Stockholm Werke von ihm. Auch hat er in einer der renommiertesten Galerien für moderne Kunst - David Zwirner in New York - unter dem surrealen Titel "Für die Insekten und die Hunde" (Pekka!) neben Richard Serra, Dan Flavin, Luc Tuymans, Wolfgang Tillmans, Isa Genzken oder Tomma Abts ausgestellt.
Kunst hat er am University College of Arts, Crafts and Design in Stockholm studiert, was wohl mit seinem Schwerpunkt auf der Kraft der traditionellen Folklorekünste Schwedens Nordströms Konzentration auf einfache, klare Formen beeinflusst hat. "Korrekte" Perspektiven sind etwas für Erbsenzähler; Sailor, Pekka und alle anderen Handlungsträger sind mit einer einzigen festen Konturlinie ohne jegliche Binnenzeichnung ausreichend gekennzeichnet, vor allem aber schweben die Figuren ähnlich den immer wieder von Neuem faszinierenden schwedischen Bauerntruhen des Barocks wie ausgeschnitten im luftleeren Raum, oft tatsächlich vor rein weißem Hintergrund, und lassen so viel Platz für die Phantasie.
All diese subtilen Reverenzen intarsiert Nordström sehr bewusst, obwohl eine seiner bekanntesten Ausstellungen "Alles, was ich gelernt und wieder vergessen habe" heißt. Ein heftiges Augenzwinkern ist allerdings auch bei Ausstellungstiteln wie "Der Esel zieht Müll dem Gold vor", "Während der Mörtel trocknet" oder "Warum nur ist alles in der Welt ein Lappen?" unübersehbar. Ein Universalkünstler mit viel Humor, der auch schon Platten aufnahm und animierte Filme schuf.
Dabei steht Nordström in einer guten Traditionslinie. Die Modernemalerin Sonia Delaunay etwa hat Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für ihren kleinen Sohn Charles ebenso ein Kinderbuch geschaffen wie später Andy Warhol ("Noa the Boa"), John Cage und Yayoi Kusama.
Und wenn dann auch noch Axel Scheffler als Vater des Grüffelo auf der Buchrückseite bekundet, Nordström sei einer seiner Lieblingszeichner, erfährt der Genuss dieses Zwitters zwischen Museum und Kinderzimmer den verdienten künstlerischen Segen aus berufenem Munde.
Jockum Nordström: "Sailor und Pekka erledigen was in der Stadt."
Aus dem Schwedischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Péridot Verlag, Köln 2024. 44 S., geb., 16,- Euro. Ab 6 J.
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