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Besprechung vom 08.03.2020
Von Geisterschiffen und Gespensterwetter
Ist das Römische Reich am Klimawandel zugrunde gegangen? Oder an einer ansteckenden Krankheit? Kyle Harper untersucht die Spätantike.
Im Frühjahr 536 nach Christus fingen die Menschen im Mittelmeerraum plötzlich an, mehr als sonst über das Wetter zu reden. Sie blickten beunruhigt zum Himmel und fragten sich, was wohl die dichte Dunstschicht zu bedeuten habe, die selbst an wolkenlosen Tagen wie eine Glocke über der Landschaft lag. "Wir alle sehen die Sonne jetzt gleichsam bläulich", schrieb der römische Chronist Cassiodor ein Jahr später, als das Phänomen schon fast zur Normalität geworden war. "Wir wundern uns, dass mitten am Tag die Körper keine Schatten werfen und dass jene Kraft der stärksten Hitze nur zu einer äußerst lauen Mattigkeit gelangt ist ... Wir hatten einen Winter ohne Stürme, einen Frühling ohne mildes Wetter, einen Sommer ohne Hitze."
Cassiodor ist einer der Kronzeugen für die "Wetteranomalie von 535/536", wie sie inzwischen allgemein heißt. Die Ursachen für die eineinhalb Jahre dauernde damalige Himmelsverfinsterung sind in der Forschung immer noch umstritten: Einige Wissenschaftler vermuten einen Vulkanausbruch in Asien oder Südamerika, andere eine Folge von Meteoriteneinschlägen auf der Nordhalbkugel. Fest steht, dass es um 540 zu einem weiteren seismischen Zwischenfall kam, der eine zweite Aerosolschicht in die Atmosphäre schleuderte. Sicher ist auch, dass sich durch beide Ereignisse das Weltklima auf katastrophale Weise veränderte.
In Irland und Kalifornien stellten die Bäume ihr Wachstum ein. In China fiel Schnee im August. In Peru wurde die Moche-Kultur durch anhaltende Dürren geschwächt. In Nordeuropa und rings um das Mittelmeer verfaulte das Getreide auf den Feldern. In Skandinavien schrumpfte die Bevölkerung um die Hälfte. In Italien, wo ein ostgotisches Heer das von byzantinischen Truppen gehaltene Rom belagerte, breitete sich Kannibalismus aus. In Syrien und Palästina schrumpften blühende Städte zu Dörfern, der Weinanbau in den Wüstenregionen erlosch. Nach einem ersten Rückgang von zweieinhalb Grad Celsius um 536 fiel die sommerliche Durchschnittstemperatur in Europa vier Jahre später um weitere 2,7 Grad. Das Jahrzehnt vor 545 wurde zum kältesten der letzten zweitausend Jahre.
Die Wetteranomalie von 536 ist ein zentrales Glied in der Beweiskette, die der amerikanische Althistoriker Kyle Harper in seiner Studie "Fatum" aufmacht. Harper, Professor an der Universität von Oklahoma, will eine Frage beantworten, die die Geschichtswissenschaft seit ihren Anfängen umtreibt: Wie konnte es sein, dass das römische Weltreich unterging, dass auf die antike Zivilisation das rohe Mittelalter folgte? Die Antwort, die er auf dreihundertfünfzig mit Karten und Tabellen gespickten Buchseiten gibt, kann niemanden überraschen: Es lag am Wetter.
Dabei kommt Harper zupass, dass die Klimaforschung zur Spätantike in jüngster Zeit große Fortschritte gemacht hat. Der Begriff des "Late Antique Little Ice Age", der spätantiken Kleinen Eiszeit, ist dabei, sich als Bezeichnung für die europäische Kälteperiode vom sechsten bis zum frühen neunten Jahrhundert durchzusetzen, so wie sich auch die Rede vom "Klimaoptimum der Römerzeit" für die Jahrhunderte um Christi Geburt allmählich etabliert. Das Drei-Stufen-Modell, das Harper in "Fatum" konstruiert, indem er zwischen das römische Optimum und die spätantike Abkühlungsphase eine dreihundertjährige Übergangszeit einschiebt, ist also keine reine Spekulation, sondern eine naheliegende Denkfigur.
Allerdings haben Harpers Historikerkollegen dem Buch seit seinem Erscheinen auf Englisch vor drei Jahren so viele Detailfehler nachgewiesen, dass mindestens das Mittelstück seines Dreischritts, also die Transformationsphase vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert, mittlerweile auf tönernen Füßen steht. Dennoch bleibt Harpers klimageschichtliche Skizze im Kern plausibel: Zur Zeit des Augustus waren die mediterranen Sommer in der Regel heiß und trocken, die Frühlinge feucht und warm, was zu guten Ernten, Bevölkerungswachstum und zur Ausdehnung der Landwirtschaft führte. Unter Justinian und seinen Nachfolgern dagegen dauerten die Frostperioden länger, die Wärmephasen nahmen ab, wodurch die nutzbare Fläche und die Staatseinnahmen zurückgingen.
In der Zwischenzeit allerdings fiel das Reich des Augustus auseinander, die Germanen überschwemmten den römischen Westen, die Goten wanderten nach Spanien und Italien, und die Kaiser verließen Rom. Für all das hat Harper keine echte klimatologische Erklärung, weshalb er sich mit Hypothesen behilft. Eine davon ist eine Verschiebung der nordatlantischen Oszillation, der Luftdruckschwankung zwischen Islandtief und Azorenhoch, die zu Dürreperioden in der eurasischen Steppe geführt und so die Westmigration der Hunnen - "bewaffnete Klimaflüchtlinge zu Pferde" - ausgelöst habe, welche wiederum das Völkerwanderungskarussell in Gang setzte. Das ist ungefähr so überzeugend, als wollte man die heutigen Flüchtlingsströme im Mittelmeer mit der Austrocknung der Sahelzone erklären. Politik schlägt Klima: Die Stämme, die die Grenzsicherungen des Römerreichs durchbrachen, waren längst durch Handel und Heeresdienst mit dessen Kultur vertraut. Sie wollten Römer werden, nicht Feinde, wie Mischa Meier jüngst in seinem Standardwerk zur Völkerwanderung gezeigt hat, und fallen deshalb aus dem klimatologischen Raster heraus.
Die zweite Hypothese ist eine Seuche, und hier wird Harpers Darstellung interessant. Um 252 nach Christus beschreibt der karthagische Bischof und spätere Märtyrer Cyprian eine ansteckende Erkrankung, die sich rasend schnell ausbreitet und auf ihrem Höhepunkt in Rom bis zu fünftausend Opfer am Tag fordert. Ihre Symptome sind diffus: Erbrechen, Durchfall, Blutungen, Rachenentzündung, Nekrose an Armen und Beinen. Die meisten Wissenschaftler vermuten, dass es sich um Pocken handelte; Harper tippt dagegen auf Ebola, wofür wenig spricht. Der Clou an der "cyprianischen Pest" ist aber, dass sie mit einer politischen Krise des Reiches zusammenfiel. Die erste Pocken-Epidemie, die "antoninische Pest" von 165 bis 180, hatte das Imperium ohne große Blessuren weggesteckt, jetzt aber wankte sein Fundament. Im Osten drangen die Perser, im Norden die Goten und Alamannen vor, Gallien und Britannien sagten sich von Rom los, in Syrien regierte ein Warlord aus Palmyra. Der Bevölkerungsverlust durch die Seuche verschärfte die Notlage und erzwang den Umbau des Staates. Aus Soldatenkaisern wurden Monarchen, aus Heerlagern Kaiserhöfe, das Reich erstarrte im Verteidigungsmodus, die Spätantike hatte begonnen.
Den Moment, in dem sie endet, markiert bei Harper ebenfalls eine Epidemie. Im Sommer 541, fünf Jahre nach dem Beginn der Wetteranomalie, taucht in Pelusium im Nildelta eine neuartige Krankheit auf. Sie beginnt mit leichtem Fieber und setzt sich mit Beulen im Lendenbereich und unter den Achseln, schwarzen Flecken auf der Haut und blutigem Husten fort. Es ist die Pest. Im darauffolgenden Frühjahr erreicht sie Konstantinopel, und das Massensterben beginnt.
Die justinianische Pest, wie sie nach dem damaligen Kaiser heißt, wurde von der Geschichtswissenschaft lange für ein Schauermärchen gehalten. Erst 2013 gelang Paläoanthropologen der Nachweis des Pesterregers in Skeletten aus einem Gräberfeld des sechsten Jahrhunderts in Aschheim bei München. Vor einem Jahr wurde das Bakterium Yersinia pestis auch in einem spätantiken Grab im englischen Edix Hill entdeckt. Damit sind die zeitgenössischen Schilderungen der Seuche bei Prokop und Johannes von Ephesos eindrucksvoll bestätigt, selbst jene Passagen, die von Geisterschiffen oder von gestapelten Leichen erzählen, die "wie verdorbene Weintrauben zertrampelt" wurden. Die Pestepidemie, deren Ursprung Harper in einer durch den Klimaschock ausgelösten Wanderung zentralasiatischer Nagetierpopulationen ausmacht, tötete nicht weniger Menschen als der Schwarze Tod des Spätmittelalters. Aber sie traf ein Imperium, deren Widerstandskraft erschöpft war. Nach mehreren Pestwellen sank die Bevölkerung Europas bis 650 auf etwa die Hälfte. Dann kamen die Araber, die als Nomaden von der Seuche verschont geblieben waren, und eroberten den Mittelmeerraum für den Islam.
So schildert es Harper. Nur dass es nicht stimmt. Westeuropa, in dem die Pest besonders heftig wütete, war für Ostrom längst verloren, das entvölkerte Italien ein Schlachtfeld für Söldnerheere. Syrien, Palästina und Ägypten aber behaupteten sich gegen die Epidemie, sie blieben das ökonomische Rückgrat des Reiches, ehe sie hundert Jahre später den Streitern Mohammeds zufielen. Es war die innere Spaltung zwischen miaphysitischen und orthodoxen Christen, die den Nahen Osten dem Islam in die Arme trieb, nicht der Bevölkerungsverlust durch Klima und Krankheiten. Wie immer, wenn derzeit in Geschichtsbüchern vom Wetter die Rede ist, wird seine Rolle im historischen Drama überschätzt. Es bildet die Kulisse für das, was geschieht, aber es schreibt nicht die Handlung. Die wahren Eiszeiten und Seuchen finden im Kopf statt, in den Hoffnungen und Ängsten der Menschen, die eine geschichtliche Daseinsform zerschlagen, weil sie ihrem Bewusstsein nicht mehr entspricht. So musste auch Rom sterben, um im Kalifat, in Byzanz und im karolingischen Mitteleuropa wiederaufzuerstehen.
Was lernen wir aus diesem Buch? Alles - wenn es um den Einfluss des Klimas auf die äußere Erscheinung einer Kultur geht, um die Körpergröße, die Krankheiten, den Alltag ihrer Angehörigen. Und nichts - wenn es darum geht, zu erklären, warum die Geschichte diese und nicht jene Wendung genommen hat, warum ein Imperium unterging und ein anderes weiterbestand. Auch das Römische Reich ist ja nicht wirklich gestorben, sondern hat als Byzantinisches weitergelebt. Erst 1453, mit der Eroberung Konstantinopels, bliesen ihm die Türken endgültig das Licht aus. Das Wetter an jenem Tag im Mai soll übrigens sehr schön gewesen sein.
ANDREAS KILB
Kyle Harper: "Fatum: Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches", erscheint am 16. März bei C.H.Beck; 567 Seiten
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