Hans Ostwalds Berlin-Chronik aus den Jahren 1904 bis 1908 bestand ursprünglich aus 50 Bänden, die nicht nur von ihm selbst, sondern von namhaften Journalisten verfasst wurden. Thomas Böhm hat mit seinem Buch "Berlin-Anfänge einer Großstadt" eine Art Zusammenfassung dieser Chroniken herausgegeben, eine eingedampfte Version, sozusagen eine Essenz des Ganzen.Da Buch beinhaltet detailreiche Beschreibungen des Berlins zwischen Jahrhundertwende und den "Wilden Zwanzigerjahren" und diese Beschreibungen lassen nichts aus. Randgruppen der Gesellschaft, Homosexuelle, Bordelle, Verbrechen und die Wohnungsnot sind nur wenige Beispiele der Themen, die, teils sogar bebildert, ihren Platz in dem Buch finden. Und manche der Themen sind heute genauso aktuell wie damals, wie etwa die Kriminalität, bezahlbarer Wohnraum und Wohnungsnot. Zwar sind die Zustände heute nicht ganz so drastisch, damals wohnten in manchen Wohnungen bis zu zehn Personen, aber Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Ostwalds Ziel war es, "Das Wesen der Großstadt Berlin im Kontrast zu anderen Großstädten herauszuarbeiten", viele seiner Beschreibungen waren aber alles andere als werbewirksam, manche wirken sicher sogar eher abschreckend. Ich kenne Berlin nur aus den Erzählungen meiner Großeltern (Jahrgang 1902 und 1913), diese stammten aber aus den Nachkriegsjahren. Zeitzeugen der Jahre, aus denen Ostwalds Chroniken stammen, gibt es nicht mehr, daher sind authentische Berichte nur noch nachzulesen. Das macht dieses Buch nicht nur interessant, sondern auch wichtig. Noch dazu fand ich es trotz des Alters der Texte sehr gut und flüssig zu lesen, teils erschreckend, manchmal aber launig - immer aber informativ. Für alle, die sich für Berlin im Allgemeinen und für die Stadtgeschichte kurz nach der Jahrhundertwende im Besonderen interessieren, ist dieses Buch ein echtes Muss. Das "Sahnehäubchen" für mich waren neben den tollen Texten aber die zahlreichen Bilder, die das Buch gekonnt abrunden. Für den Ausflug nach Berlin - geografisch und historisch, von mir 5 Sterne.