Die Ereignisse der letzten Monate und Jahre machen unmissverständlich klar, dass Europa sein Schicksal auch sicherheitspolitisch selbst in die Hand nehmen muss. Es braucht einen wirksamen militärischen Schutz vor einem expansionistischen Russland und einen ebenso wirksamen politischen Schutz vor einer wankelmütigen USA.
Für Hans-Werner Sinn schlägt daher die Stunde Europas. Die EU muss die einst verpasste Chance, zu einer politischen Union zu werden, jetzt zügig ergreifen, und sich zu einem Bundesstaat mit einem echten Parlament und einer gemeinsamen, demokratisch gewählten Regierung weiterentwickeln, die über eigene Streitkräfte verfügt und sich innerhalb der NATO ähnlich wie die USA positionieren kann. Nur so lässt sich der historische Webfehler der EU beheben, der darin bestand, dass es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs versäumt wurde, die richtige Reihenfolge von Währungsunion und politischer Union einzuhalten.
Wie Deutschland in den 1990er Jahren seine D-Mark unter dem Namen Euro sozialisierte und es zuließ, dass die EZB einen fiskalischen Schutzschirm für die schwächeren Mitglieder der Währungsunion aufspannte, muss jetzt Frankreich seine Streitkräfte der EU unterstellen und zulassen, dass seine nuklearen Abschreckungskapazität der gesamten EU zugutekommt. Dabei tut Eile not. Auf die dringend notwendige, aber zeitaufwendige Harmonisierung der europäischen Waffensysteme kann man nicht warten.
Nur die politische Union wird potenzielle Aggressoren und eigennützig agierende NATO-Verbündete wirklich beeindrucken und bewegen, einer Friedensordnung unter gleichwertigen Partnern zuzustimmen.
Hans-Werner Sinn zeigt mit seinem Essay, welche historische Chance die gegenwärtige Polykrise bietet. Es steht zu hoffen, dass Europas Politikerinnen und Politiker den Mut haben, sie zu ergreifen.