Besprechung vom 18.10.2022
Blühendes Leben am Autobahnkreuz
Ein Senckenberg-Buch zeigt, an welchen Orten in Frankfurt es noch alte Wildnis gibt - und wo neue entstanden ist
Der Eindringling hinterlässt am Baum stets verräterische Spuren. An den 200 bis 300 Jahre alten Eichen sind am Stamm daumendicke Ausbohrlöcher zu sehen. Unten am Fuß der mächtigen Bäume finden sich helles grobes Bohrmehl und abgelöste Rinde. Im Biegwald - einer auch in Frankfurt wenig bekannten Naturinsel zwischen Bockenheim und Rödelheim - hat der Heldbockkäfer ein Refugium gefunden. In 52 Eichen wurde der schwarze Käfer, der mit mehr als fünf Zentimeter Länge zu den größten Mitteleuropas zählt, in den vergangenen Jahren entdeckt.
Das streng geschützte Insekt ist nur noch im Oberrheingraben, an der Elbe und in Ostdeutschland zu Hause. Der Frankfurter Biegwald ist damit "der nördlichste Vorposten" des Heldbocks im Südwesten Deutschlands, sagt Indra Starke-Ottich, Biologin bei der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung. Zusammen mit dem Frankfurter Botanikprofessor Georg Zizka hat sie die "Wildnis in Frankfurt" untersucht und darüber ein Buch geschrieben.
Der Band beschäftigt sich nicht nur mit alten Kulturräumen wie dem Biegwald und dem Sossenheimer Unterfeld. Im Fokus steht zugleich die "neue Wildnis" wie etwa auf dem Hauptfriedhof oder - was wohl am meisten verblüfft - am Frankfurter Kreuz. Ein interessanter Beitrag widmet sich der Pflanzenwelt in den Pflasterfugen von Frankfurts Gehwegen und öffentlichen Plätzen. Außerdem geht das Buch der Frage nach, wie die Stadt mit ihren Renaturierungsprojekten am Monte Scherbelino im Nordpark in Bonames oder am Fechenheimer Mainbogen vorankommt.
Für die Vorstellung ihres Bands wählten die Autoren aber bewusst die "alte Wildnis" am Biegwald - und der ist in der Tat nicht nur wegen des Heldbocks bemerkenswert. Gleich hinter einer Tankstelle an der Stadtautobahn 648 hat sich der jahrhundertealte Auenwald nahe der Nidda mit seinen Eichen, Hainbuchen, Eschen und den inzwischen stark bedrohten Ulmen auf knapp 20 Hektar erhalten. Entlang der Wege liegen überall Eichenstämme, die mehr als einen Meter dick sind. Dort kann man die tiefen Fraßgänge bestaunen, die der Heldbock ins Holz gebohrt hat.
Der Käfer bewohnt nur geschwächte Eichen, die dann in einem mehrere Jahrzehnte dauernden Siechtum langsam absterben. In dem Urwald mit seinem vielen Totholz sind außer dort nistenden Insekten noch viele seltene Höhlenbrüter wie der Mittel- und Kleinspecht oder der Kleiber heimisch. Bodenbrüter unter den Vögeln haben es dagegen im Biegwald schwer, wie Starke-Ottich sagt. Das liegt an den Hunden, die oft auf den Wegen im Biegwald ausgeführt werden.
An Konflikten zwischen Mensch und Natur mangelt es gerade in einer ständig wachsenden Metropole wie Frankfurt nicht. Eines ist für die Buchautoren aber klar: Nur die Ausweisung neuer Flächen für die Stadtnatur kann die Biodiversität in Frankfurt erhöhen und mehr Naturerfahrung möglich machen. "Wir müssen mehr Wildnis zulassen", sagt Zizka. Wildnisgebiete sollen sich dabei möglichst ohne Einflüsse von außen natürlich entwickeln können.
Mehr urbane Wildnis sei nicht automatisch gegen den Menschen gerichtet, sagen die Wissenschaftler. Dieser sei auch nicht immer der Störenfried. Wenn der Mensch sich zum Beispiel aus von ihm selbst angelegten Streuobstwiesen zurückziehe, sei dies für die Artenvielfalt eher abträglich, sagt Starke-Ottich. "Manchmal muss sich aber der Mensch zurücknehmen", fügt sie hinzu.
So sei es gut, wenn ein Naturraum einige Jahre lang sich selbst überlassen bleibe. Nur dann könne eine Renaturierung wie etwa am Mainbogen in Fechenheim gelingen. Dort entstehen seit 2014 ausgedehnte Überschwemmungsflächen, auf denen sich Tiere und Pflanzen möglichst ungestört wieder ansiedeln sollen.
Am besten funktioniert aber die Renaturierung dort, wo der Mensch einfach nicht mehr hinkommt. Das gilt zum Beispiel für das Frankfurter Kreuz, wie ein Beitrag im Buch deutlich macht. Die Innenflächen des viel befahrenen Autobahnknotenpunkts werden kaum noch betreten. Tier- und Pflanzenarten konnten sich dort ungestört entwickeln - wenn sie gegen Abgase und Lärm resistent sind.
Auch im Biegwald ist das Rauschen der nahen A 648 ein ständiger Begleiter. Doch das scheint die Vögel dort nicht allzu sehr zu stören, weil sie sich in dieser urbanen Oase sicher fühlen und dort auch genug Insekten zur Nahrung finden, wie Starke-Ottich erläutert. Ein funktionierendes Biotop - auch dank des Heldbockkäfers, der Lebensräume für andere Insekten oder Fledermäuse schafft.
Doch der Heldbock ist auf Eichen angewiesen - und an nachwachsenden jungen Exemplaren fehlt es nicht nur im Biegwald. "Wir brauchen unbedingt neue Eichen", sagt deshalb Starke-Ottich und meint damit das ganze Stadtgebiet. Das Ziel sei nicht leicht zu erreichen. Schließlich muss man für den Käfer ein paar Jahrhunderte in die Zukunft planen, weil er nur die ganz alten Bäume befällt. "Frankfurt hat da eine große Verantwortung."
Der Heldbock kommt auch in anderen Frankfurter Wäldern vor wie dem Riederwald. Jetzt wollen ihn Umweltschützer zudem im Fechenheimer Wald gesichtet haben. Sie wollen damit einen Stopp der dort geplanten Rodung von drei Hektar für den Riederwald-Autobahntunnel erreichen. Doch aus diesem aktuellen politischen Konflikt um den Heldbock halten sich die Buchautoren heraus. "Wir haben keine Daten für den Fechenheimer Wald", sagt Starke-Ottich. Es sei aber auch nicht ausgeschlossen, dass der Käfer dort heimisch sei.
Eines ist für die Senckenberg-Forscher klar: Wildnis ist nicht nur in städtischen Wäldern und Kulturlandschaften wichtig, sondern auch in der versiegelten City. Bei ungestörter Entwicklung können Standorte wie Baumscheiben an Straßen, Brachen entlang von Gebäuden oder selbst Ritzen im Pflaster zu kleinen Biotopen werden, meinen die Autoren. Das Problem dieser "neuen Wildnis" ist laut Starke-Ottich, dass die Stadtbewohner diese Räume oft als nicht wertvoll betrachteten, meint Starke-Ottich. Dafür müsse das Bewusstsein geschärft werden.
Noch habe es die urbane Wildnis in Frankfurt nicht leicht, lautet das Fazit der Biologin. Zu groß ist der Druck, der durch den Bau neuer Siedlungen und neu erschlossene Flächen für Gewerbe und Verkehr entsteht. "Die Wildnis ist aber zumindest angekommen", stellt die Forscherin fest. Ko-Autor Zizka sieht den Alten Flugplatz in Kalbach/Bonames als besonders gelungenes Projekt. Von 2003 an wurde er in eine große Wildnis- und Naherholungsfläche umgewandelt. THOMAS MAYER
Indra Starke-Ottich/Georg Zizka: "Wildnis in Frankfurt", 296 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen, Frankfurt 2022, Senckenberg-Buch 87, 22,90 Euro; ISBN 978-3-510-61422-6
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