Besprechung vom 06.02.2021
Er sieht die Welt anders
Durchträumte Tage: "Die Vögel" von Tarjei Vesaas
Nein, dieser feinfühlige Roman hat kein Happy End. Schon das "Eis-Schloss", jene Geschichte um ein trauerndes Mädchen, die 2019 ein deutsches Publikum an den norwegischen Meisterautor Tarjei Vesaas erinnerte, wühlte zuweilen stark auf. Doch brach dort zum Ende hin Licht durch, legte sich sogar "ein wenig Wärme" auf das Gesicht der jungen Protagonistin.
Der Ton, den Vesaas in "Die Vögel" anschlägt, einem 1957 und damit sechs Jahre vor dem "Eis-Schloss" erschienenen Buch (deutsch erstmals 1961), ist dunkler, das Buch endet im Herbstwind. Wer das Buch aufschlägt, betritt die Innenwelt eines Mannes, der geistig behindert ist - vor allem aber sensibler als die Menschen um ihn herum. Judith Hermann erwähnt in ihrem Nachwort, dass der Autor von einem "Selbstportrait mit Vorbehalt" sprach. Das ist eine Deutungsmöglichkeit: Tarjei Vesaas, der auf einem Bauernhof aufwuchs und eigentlich auch für dessen Übernahme vorgesehen war, ist ein empfindsamer, stark mit Symbolen arbeitender Autor, der auch Lyrik und Dramen verfasste.
Der geistig zurückgebliebene siebenunddreißigjährige Matti, um den es in "Die Vögel" geht, ist der einzige Bewohner eines landwirtschaftlich geprägten Ortes, der für die Arbeit nicht taugt. Er durchträumt die Tage und bleibt schon deshalb unverstanden, weil er eine Sprache spricht, die seine Gedanken nur andeuten kann. Unvermittelt fragt er Dinge wie "Warum ist es so, wie es ist?", murmelt Sätze wie "Komisch, was man alles träumen kann, wenn man nur will". Überall sieht er Zeichen, die ihn endlos beschäftigen wie eine Schnepfe, die "ihren Balzflug einfach so verlegt". Matti ist ein dauergrübelnder Beobachter des monotonen Daseins. Spürt Dinge, die sonst niemand spürt, sieht Dinge, für die andere blind sind, misst allem Bedeutung bei. Wie ein Dichter.
Man kann "Die Vögel" - ein Werk, das mit seinem reduzierten Setting zuweilen wie ein Werk von Jon Fosse anmutet (der zu den vielen Vesaas-Bewunderern zählt) und doch zugänglicher ist - aber auch schlicht als existentialistische Tragödie lesen. Mit einem grauen Haar, das Matti auf dem Kopf seiner Schwester Hege entdeckt, und besagtem Schnepfenflug, den der "Dussel" Matti als "etwas Gutes" deutet, bis ein Jäger auftaucht und den Vogel per "Meisterschuss" erlegt, beginnt nämlich die Geschichte einer für Matti kaum zu verkraftenden Erkenntnis: Er und Hege, die sich aufopfernd um ihren jüngeren Bruder kümmert und allein mit ihm in einer Waldhütte wohnt, werden nicht auf ewig zusammen sein. "Allmählich ging ihm die Wahrheit auf . . . Du darfst mich nicht alleinlassen!, durchfuhr es ihn, an Hege in ihrer Kammer gerichtet. Was dir und mir auch passiert, du darfst mich nicht alleinlassen." Zuweilen will man fast weinen über diesem Roman, zuweilen schmunzeln. Und schreien.
Matti nimmt sich vor, Hege unter die Arme zu greifen. Er will auf eigene Füße kommen, und zu diesem Traum von einem selbständigen Leben zählt auch, dass sich endlich mal eine Frau in ihn verliebt. Aber das ist alles zum Scheitern verurteilt, die Dinge nehmen ihren Lauf, wie vom "Dussel" befürchtet. Wir staunen unterdessen über die Leichtigkeit, mit der Vesaas seine Motive setzt, die verknappte Sprache, und merken, wie uns das emotional immer aufgeladenere Geschehen unter die Haut kriecht.
Bald fürchtet man um alle Figuren, denen der Verzweifelte begegnet, ob das kichernde Frauen sind, die sich unvermutet neben ihn setzen und nicht wissen, wer er ist, oder ein Holzfäller, der im Ort ankommt und ausgerechnet bei Matti im Boot landet. Und man fürchtet um diesen selbst. Das atemverschlagende Finale, ebenso konsequent wie bestürzend, ist nichts für labile Seelen.
MATTHIAS HANNEMANN
Tarjei Vesaas:
"Die Vögel". Roman.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Nachwort von Judith Hermann. Guggolz Verlag, Berlin 2020. 279 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.