Hier kommt die mitreißende Popkultur-Story über das globale Mitsingen
Karaoke ist mehr als nur ein Partyspaß - es ist ein weltweites Phänomen, das seit über fünf Jahrzehnten Menschen überall verbindet: ob in Kneipen, Wohnzimmern oder auf großen Bühnen.
Aber wie konnte es zu der Mitsing-Manie kommen, die uns verleitet, auf musikalische oder oft sehr unmusikalische Weise unser Innerstes nach außen zu kehren? Andreas Neuenkirchen, Popkulturkenner und Japan-Experte, erzählt, wie ein musikbegeisterter (wenngleich nur durchschnittlich sangesbegabter) Ingenieur in seiner Werkstatt den Grundstein für die internationale Erfolgsgeschichte legte, wie seine Idee sich weltweit ausbreitete und warum wir Karaoke auch in Zukunft nicht loswerden. Mit Witz und Tiefe geht es dabei auch um die gesellschaftlichen Folgen - von handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Todesfolge bis zur heilenden Kraft des Singens.
Ein Muss für alle, die Popkultur lieben.
Besprechung vom 22.03.2025
Vom Glück der Nische
Keine Popkultur ohne diese Höllenmaschine: Andreas Neuenkirchen erzählt die Geschichte des Karaoke, zu der neben Stundenhotels und Kakerlaken auch Morde und Bruce Springsteen gehören.
Von Kai Spanke
Von Kai Spanke
Shigeichi Negishi hat sich manches einfallen lassen, um die japanische Gesellschaft zu bereichern. Zum Beispiel einen Farbball, mit dem nervlich robuste Bankangestellte einen Räuber bewerfen können, sodass Ermittler die schmierige Type schon von Weitem erkennen. Oder ein Gebetsbuch für Buddhisten. Das sprechen kann. Viele seiner Ideen ließ Negishi direkt patentieren. Bei einer Erfindung verzichtete er jedoch darauf. Getauft hatte er sie allerdings schon: auf den Namen "Sparko Box".
Ende der Sechzigerjahre leitete Negishi ein gut laufendes Geschäft mit achtzig Technikern und Ingenieuren, das Elektronikteile für Firmen aus der Unterhaltungsbranche herstellte. Besondere Freude hatte er daran, auch bei Anwesenheit seiner Kollegen jene Melodien zu intonieren, die er aus der Radioshow "Popsongs ohne Gesang" kannte. Man war sich einig: Die Stimme des Chefs ist nur auszuhalten, solange er nicht losträllert. Ihm selbst war dieses allenthalben spöttisch kommentierte Manko nicht nachvollziehbar, aber er wollte der Sache auf den Grund gehen. Also bat er einen der Ingenieure, ein Mikrofon an ein Tonbandgerät anzuschließen, damit er sich selbst beim Singen aufnehmen kann.
Wenige Tage später, weiß Andreas Neuenkirchen in seinem Buch "Völlig losgelöst" über die Geschichte der Karaoke zu berichten, war der Auftrag erledigt. Negishi überprüfte die Funktionsweise des Geräts, befand seinen Gesang für exzellent und dachte sich: "Das macht Spaß." Anschließend bat er seinen Kollegen, die Konstruktion zu überarbeiten und mit einem Münzeinwurf zu bestücken. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, es gab ein Fach für Tonbänder, einen Mikrofonanschluss, Knöpfe für Lautstärke, Höhe und Balance. Eine geriffelte Plastikscheibe bildete die Vorderseite, dahinter flackerten bunte Lichter im Takt der Musik. Wegen dieser Glühbirnen erhielt das Gerät den Namen "Sparko Box", vom Englischen "to sparkle" - funkeln.
Kneipiers waren begeistert von der Maschine, professionelle Musiker hassten sie. Denn wer damals in der Öffentlichkeit singen wollte, war auf Leute angewiesen, die Instrumente spielten und durch die Gastroszene tingelten. Für tausend Yen legten sie los, der neue Karaoke-Kasten gab schon für hundert Yen Laut. "Karaoke" (zu Deutsch: leeres Orchester) wurde einst als Fachbegriff im Rundfunk benutzt. Schickten Radio- oder Fernsehsender ihre Berühmtheiten zu Auftritten aufs Land, wäre es der Mühen zu viel gewesen, eine ganze Kapelle mitreisen zu lassen. Daher nahm man die Musik ohne den Gesang im Vorfeld auf, was übrigens keine japanische Eigentümlichkeit gewesen ist. Neuenkirchen erinnert daran, dass Dieter Thomas Heck dieses Verfahren 1969, in der ersten Ausgabe der "ZDF-Hitparade", als "Halb-Playback" bezeichnete. Der Widerstand der professionellen Musiker war jedenfalls so groß, dass die Sache nicht an Fahrt aufnahm. Lediglich die Betreiber von Stundenhotels mochten die Maschine, aber nur, weil sie so hübsch blinkte.
Nun gab es noch Daisuke Inoue. Wahrscheinlich wird er, Möchtegernmusiker ohne größeres Talent, nichts von Negishis "Sparko Box" gewusst haben, als er einen Freund, der defekte Musikinstrumente instand setzte, darum bat, ein Autoradio mit einem 8-Spur-Tonbandgerät zu einer Mitsing-Apparatur umzubauen. Hier regte sich ebenfalls Widerstand von lokalen Musikern, weil die "8 Juke" genannte "Höllenmaschine" Arbeitsplätze wegnahm: "Die technologische Rationalisierung in Kunst und Unterhaltung hatte begonnen, ein gutes halbes Jahrhundert, bevor die KI kommen sollte." Trotz beachtlicher Nachfrage gab Inoue die Vermarktung seiner "8 Juke" auf, schließlich kamen bald große Konzerne mit eigenen Produkten, und gegen die war kein noch so gut gedeihendes Kleinunternehmerkraut gewachsen. Immerhin: Inoue entwickelte noch ein ökologisch abbaubares Anti-Insekten-Spray, da sich Kakerlaken in Karaoke-Maschinen besonders wohlfühlen.
Neuenkirchen, der in Japan lebt, hat nicht bloß eine Geschichte des Karaoke als kulturellem Schauplatz, sondern auch als Teil der Technikentwicklung geschrieben. Obendrein dürften einige Passagen seiner launigen Tour, die sich als deutschsprachige Ergänzung zu Rob Sheffields 2013 erschienener Monographie "Turn Around Bright Eyes: The Rituals of Love and Karaoke" empfiehlt, auch in einem Kulturführer weiterhelfen. Weil in Japan das Gemeinwesen über dem Individuum steht, würden Nischen (Special-Interest-Sammlungen, Fetische, Verkleidungen) zur persönlichen Entfaltung als notwendig erachtet. Oft "akzeptiert die japanische Gesellschaft solche Nischen souveräner als die westliche Kultur". Amerika hingegen, das Land der Selbstentfaltung und persönlichen Standpunkte, betreibt Karaoke gerne im Chor, was, zumindest teilweise, am dortigen Stellenwert der Kirche liegen mag.
Das klingt nun ein wenig schablonenhaft, doch selbst der kritisch gestimmte Leser will solche Darlegungen nicht konsequent als unterkomplex abtun. Der Vergleich mit westlichen Gepflogenheiten erweist sich nämlich als lohnend, denn Vorläufer des Karaoke hatten mitunter einen festen Platz im niedrigschwelligen Unterhaltungssegment. Eine Zeichentrickserie namens "Screen Songs" animierte Kinobesucher in Amerika von 1929 an zum Singen. Die Texte wurden eingeblendet, und ein über die Buchstaben hinwegtänzelnder Ball zeigte an, wo man sich im Song befand. Darauf wird das Karaoke später zurückkommen, allerdings erst Jahre nach der Erfindung der ersten Geräte.
Manchmal nur kursorisch, dann wieder an der Grenze zur Langatmigkeit widmet sich der Autor seinem Gegenstand. Leuten, die regelmäßig in Karaoke-Center gehen, werden sich freuen über die Ausführungen zum Unterschied zwischen Karaoke-Kabinen, die man mieten und allein oder im kleinen Kreis nutzen kann, und der Karaoke-Bühne, auf der man fremden Leuten zeigt, was man gesanglich zu leisten imstande ist. Nur von "My Way" wird man nach der Lektüre wohl abraten müssen, denn der Song hat zumindest im Karaoke-Kontext immer wieder Zwist und Morde provoziert. Gut, das ist boulevardeskes Partywissen, aber Neuenkirchen geriert sich als Allesverwerter, der sich keine Mühe gibt, uns ein U für ein E vorzumachen. Ihm geht es um das ganze Bild.
Dazu gehört auch Bruce Springsteen, der Karaoke in die Rocktauglichkeit überführte. Als er in den Achtzigern mit dem Album "Born in the U.S.A." tourte, kam er für mehrere Konzerte nach Japan, was sein Publikum in Ausnahmezustände versetzte. Wenig später ließ sich die Karaoke-Version der Platte erstehen, und zwar mit englischem Werbetext: "That exact feeling of singing with the boss, if not making you feel like him inside out!" Ein paar Seiten später wechselt das Register. Wir erfahren etliches über die Bedeutung von Karaoke in anderen Ländern und bei der Gelegenheit auch, dass vor allem in Asien Karaoke-Center "zur Verschleierung von Prostitution genutzt" werden. In Indonesien gilt "Karaoke-Girl" Neuenkirchen zufolge als Traumjob, da die Bezahlung "rund das Zehnfache des Durchschnittsgehalts" beträgt.
Drunter und drüber geht es in diesem Buch, man sollte es weder allzu ernst nehmen noch belächeln. Es passt einfach bestens zu seinem Gegenstand, denn die Mischung macht's; nicht jedes Kapitel hat es in sich, insgesamt jedoch ist's ein großer Spaß. Eine Sache noch zum Schluss: Shigeichi Negishi starb 2024 mit hundert Jahren. In Itabashi, dem Tokioter Stadtteil, wo er geboren wurde und die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, erinnert kein Denkmal, ja nicht mal eine Plakette an ihn.
Andreas Neuenkirchen: "Völlig losgelöst". Wie Karaoke die Welt eroberte.
Leykam Verlag, Graz/Wien 2025. 304 S., geb.
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