Besprechung vom 24.12.2023
Heldenhaftes Fliegerleben
Ein ungewöhnlicher Pilot mit waghalsigen Aufträgen: Ein neuer Bildband porträtiert Wulf-Diether Graf zu Castell.
Von Jürgen Schelling
Wulf-Diether Graf zu Castell, deutscher Adeliger und in den 1930er- Jahren blutjunger Pilot der damaligen Luft Hansa, erhält 1933 einen ungewöhnlichen Auftrag: Der gerade mal 27-Jährige soll neue Strecken der zwei Jahre zuvor gegründeten deutsch-chinesischen Fluggesellschaft Eurasia für eine Postfluglinie nach China suchen und erproben. Der abenteuerlustige Flieger nimmt die ungewöhnliche Herausforderung begeistert an. Er dokumentiert in den kommenden Jahren etliche seiner Flüge in und nach China mit seiner Leica.
Graf Castell nutzt bereits die zu dieser Zeit gerade erfundenen Farbfilme für einige seiner Aufnahmen. So kann er als einer der ersten Europäer Luftbilder von Peking und dem Kaiserpalast machen. Rund 1500 Aufnahmen entstehen in dieser Zeit. Dass Fliegen in China in den 1930er-Jahren mit seiner unterentwickelten oder gar nicht vorhandenen Luftfahrtinfrastruktur Abenteuer pur ist, zeigen etliche Unfälle und Bruchlandungen. Zudem müssen selbst die robusten Junkers-Flugzeuge der Eurasia nach der Landung manchmal erst mithilfe von Ochsengespannen aus versumpften Buschpisten wieder auf festen Untergrund gezogen werden. Die mangelnde Verfügbarkeit von Treibstoff oder Ersatzteilen setzen Castell und seiner Crew oft ebenfalls zu. Unfreiwillige und manchmal wochenlange Zwangspausen sind deshalb eher die Regel als Ausnahme.
Die Navigation mit unpräzisen Landkarten im Sichtflug ist zu dieser Zeit ohnehin äußerst anspruchsvoll. Eine Flugwetterberatung gibt es nur in rudimentärer Form. Nachtflüge sind komplett ausgeschlossen. Dennoch erlebt der begeisterte Pilot wunderbare Flüge im noch ursprünglichen und überwiegend ländlich bevölkerten China.
Allerdings gibt es in dem Riesenreich auch bereits das andere Extrem: Schanghai hat schon in den 1930er-Jahren die Schwelle von drei Millionen Einwohnern überschritten. In ganz China gibt es zu dieser Zeit bereits mehr als 400 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In Deutschland leben zu dieser Zeit etwas über 60 Millionen Bürger. Schanghai ist damals unangefochtene Wirtschaftsmetropole. Deswegen werden auch die für die Eurasia gedachten einmotorigen Junkers W34 hierhin auf dem Luftweg von Deutschland überführt. Die Presse feiert den 50 Flugstunden dauernden Trip der kombinierten Passagier- und Transportflugzeuge über zehn Tage hinweg als famosen Rekord.
Der junge Pilot Castell erlebt sein neues Fliegerleben in China allerdings auf die harte Tour. Schon kurz nach seiner Ankunft stehen zwei Bruchlandungen im Flugbuch. Was anderswo womöglich zum Rauswurf des Piloten geführt hätte, ist unter den besonderen Umständen in China lediglich ein unangenehmes und kostspieliges Vorkommnis.
Castell gewöhnt sich rasch an die neue Umgebung und seine Aufgaben, die er als aviatische Herausforderung empfindet. Denn in den 1930er-Jahren wird noch überwiegend in Flugzeugen mit offenem Cockpit geflogen. Kräftigem Starkregen oder den in manchen Regionen Chinas häufig vorkommenden Sandstürmen müssen die Crews mit Bordmitteln trotzen. Gegen die ins Cockpit rinnende Nässe hilft Regenzeug, bei Sandstürmen binden sich die Piloten zum Schutz behelfsmäßig Taschentücher ins Gesicht.
Während die Besatzungen diese Widrigkeiten aber unbeschadet überstehen, haben sie einen verheerenden Einfluss auf die Technik. Wie Schmirgelpapier wirkt Sand auf die Kolben der Sternmotoren. Nicht selten wird ein Triebwerk deshalb innerhalb kurzer Zeit zu Metallschrott. Dann heißt es lange auf Ersatz warten.
Bei den von ihm gesteuerten Flugzeugen bleibt Graf zu Castell dem deutschen Flugzeugbauer Junkers treu. Zu Beginn seiner Laufbahn bei der Eurasia ist er noch mit der sechssitzigen Junkers F13 mit Reihenmotor unterwegs. Später wechselt er auf die deutlich größere Junkers W34 mit Sternmotor. Gegen Ende seiner Laufbahn in China steuert Castell bereits die zu dieser Zeit fabrikneue Ju52. Die "Tante Ju" bringt durch ihre drei Triebwerke ein deutliches Plus an Sicherheit bei den Flügen übers chinesische Hochgebirge oder das Meer. Sie kann zudem mehr Passagiere oder Fracht aufnehmen als die einmotorige W34.
Castell macht sich einen Namen, als er 1937 federführend die Suche nach einer vermeintlich im Pamir-Gebirge abgestürzten Ju52 der Luft Hansa leitet. Das von ihm veröffentlichte Buch über seine anstrengenden Suchflüge in 5000 Meter Höhe unter dem Titel "Chinaflug" wird 1938 zu einem Erfolg in Deutschland. Die vermisste Ju52 war allerdings gar nicht abgestürzt, sondern an ganz anderer Stelle notgelandet, ihre Besatzung festgenommen. Nach der Freilassung gelang es den Piloten, ihre Ju52 wieder bis ins afghanische Kabul zu fliegen, wo sie auf ihre Suchmannschaft treffen.
Nach seiner Zeit in China und der Einrichtung einer ersten Linienflugverbindung nach Kabul 1937 geht Castell für die damalige Luft Hansa 1939 nach Südamerika. Während in Europa und im pazifischen Raum der Zweite Weltkrieg tobt, kann sich Castell in den kommenden Jahren als Junkers-Pilot in Bolivien, Peru und Ecuador über Wasser halten.
Graf zu Castell ist während der Zeit des Nationalsozialismus nie Mitglied der NSDAP. Wohl auch deshalb gelingt es ihm, nach Ende des Krieges seine aviatische Karriere, wenn auch auf andere Weise, fortzusetzen. Er wird von der amerikanischen Besatzungsmacht 1949 zum Geschäftsführer des zu dieser Zeit noch zerbombten Flugfeldes München ernannt. Castell macht den aufstrebenden Flughafen München-Riem in seiner Zeit als Direktor bis 1972 zu einem der größten und bekanntesten Flughäfen Deutschlands. In zweiter Ehe ist er mit der in der Nachkriegszeit populären österreichischen Film- und Theaterschauspielerin Luise Ullrich verheiratet. Graf zu Castell kommt nach einem erfüllten Leben 1980 im Alter von 75 Jahren durch einen häuslichen Unfall ums Leben.
Das kürzlich erschienene Buch "Pionier der Lüfte" des in Schanghai lebenden deutschen Sinologen Andreas Tank zeigt einen für die damalige Zeit extrem ungewöhnlichen Lebensweg. Ein junger Pilot, der sich in den 1930er- und 1940er-Jahren seine fliegerischen Sporen in exotischen Ländern verdient, erfährt Begegnungen und erlebt Abenteuer, wie es wohl nur wenigen Menschen in dieser Zeit vergönnt ist. Unzählige Aufnahmen, teils in Farbe, lassen die aviatischen Abenteuer des Flugkapitäns für die Nachwelt erlebbar werden. Sie erlauben einen seltenen Einblick in die Ära der beginnenden Verkehrsluftfahrt.
Die Leistung des Autors ist es, unzählige Geschehnisse aus dem Leben des Flugpioniers detailreich recherchiert und erstmals veröffentlicht zu haben. Da Castell nicht nur Flieger, sondern mit seiner Leica auch ambitionierter Fotograf war, lassen seine oft per Tagebuch dokumentierten Erlebnisse und die Aufnahmen das Gesamtbild eines außergewöhnlichen Menschen und Piloten entstehen. Der Titel des Buchs beschreibt Castell treffend - ein echter "Pionier der Lüfte".
Wulf-Diether Graf zu Castell - Pionier der Lüfte, von Andreas Tank, Frederking & Thaler Verlag, 240 Seiten, 170 Fotos und Illustrationen
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