Besprechung vom 04.11.2024
Der moralische Konsument
Über Gewissensentscheidungen beim Einkauf
Bioprodukte, Nutriscore, Lieferketten- und Tierwohl-Achtsamkeit: Der Einkauf im Supermarkt wird immer mehr zum Balanceakt zwischen sozialer Wachsamkeit ("wokeness") und eigener Gewissensentscheidung. Dabei ist das aktuelle Bemühen, politische Veränderungen über individuelle Konsumentscheidungen herbeizuführen, kein neues Phänomen. Die Moralisierung der Ökonomie hat Tradition. Doch seit wann wird über den privaten Warenkorb debattiert, um erwünschtes Verhalten hervorzurufen?
Benjamin Möckels Buch "Die Erfindung des moralischen Konsumenten" verspricht Aufklärung. Es untersucht das Entstehen moralischer Konsumpraktiken seit den 1950er-Jahren in Großbritannien und Westdeutschland. Gefragt wird nach ihrem Zusammenhang mit der Expansion globaler Märkte, die über Produkte und politische Proteste ihren Widerhall auch in der privaten Lebenswelt fanden. Moralischer Konsum wird dabei als niedrigschwellige Form von politischer Teilhabe interpretiert. Indem sie Individualisierung und Kommerzialisierung verband, habe sie ein neues Verständnis von Konsum als politisch relevantes Handlungsfeld begünstigt. Es ist diese Transformation, die Benjamin Möckel weit ausholend als "Erfindung des moralischen Konsumenten" beschreibt.
Seine gewichtigen 618 Seiten mit mehr als 3000 Hinweisen zu publizierten Quellen und Sekundärliteratur sind eine brillante Fundgrube zum Thema Ökonomie und Moral. Zwar nicht unbedingt eine süffige Lektüre, aber doch empfehlenswert, um Konsum stärker als politisch wie moralisch einflussreiche Alltagspraxis wahrzunehmen. Die Fleißarbeit aus zehn Jahren Forschung in London, Oxford, Kairo und Neu Delhi diente zur Habilitation am Historischen Institut der Universität Köln. Sie bewegt sich interdisziplinär zwischen Geschichte, Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft. Möckel lehrt zurzeit als Vertretungsprofessor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Göttingen.
In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt der vorwiegend an der Kulturgeschichte von Ökonomie und politischer Partizipation interessierte Historiker in der hier vorliegenden Analyse die Interdependenz von Massenkonsum, Moralbewusstsein und öffentlichem Protest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel von Menschenrechtsbewegung, Umweltaktivismus und fairem Handel erörtert er in neun Kapiteln, unter welchen Voraussetzungen individuelle Kaufentscheidungen zum Vehikel wurden, um politische und moralische Meinungen zu äußern und damit den Alltag auch in Form von Kampagnen zu politisieren. Das Buch interessiert sich vor allem für diese vielfältigen Initiativen im Rahmen der fortschreitenden Massenkonsumgesellschaft. Es ordnet sie als Kritik, aber auch als integralen Bestandteil der globalen Entwicklung in den 1950er- bis 1990er-Jahren ein.
Von Bedeutung sind dabei nicht zuletzt die Entstehung des alternativen Handels und die Utopie eines gerechten Welthandels. Die Diskussionen über legitime Preisbildung reichen allerdings geschichtlich weit zurück und haben nicht erst begonnen, als der "faire Handel" diese Frage anging. Die Front gegen die strukturellen Ungerechtigkeiten des globalen Handels führte auch zu den sogenannten Weltläden sowie Direktimporten typischer Handelsprodukte aus der Dritten Welt wie Kaffee, Tee und Kakao. Im Kontext mit der wirtschaftlichen Entwicklung im globalen Süden kam es auch dort zu Produktprotesten und Verbraucherpartizipation.
Möckel beschäftigt sich auch ausführlich mit Antiapartheid-Aktionen sowie dem berühmten Nestlé-Boykott. Schon 1972 hatten Ärzte die Werbepraktiken von Herstellern industrieller Muttermilch als gefährlich für die Gesundheit von Säuglingen in den Entwicklungsländern angeprangert. In der Folge begannen wenige Jahre später in westlichen Ländern und der Dritten Welt Boykottkampagnen von Entwicklungshilfegruppen gegen die in der Schweiz ansässige Firma. Dem weltweit größten Produzenten von Babynahrung wurde vorgeworfen, mit aggressiver, irreführender Werbung Mütter zu veranlassen, ihre Babys mit industrieller Säuglingsnahrung aus der Flasche zu versorgen, statt sie selbst zu stillen. Die Proteste führten 1981 zu einem verbindlichen internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten.
Die Erfindung des "moralischen Konsumenten" als öffentlich wirksamem Begriff verortet Möckel letztlich in der Marktforschung der 1980er-Jahre. Statt um kollektive politische Proteste sei es von da an nur noch um individuelle Konsumhandlungen und Lebensstilentscheidungen gegangen, schreibt er. Statt politischer Aktivisten, die für moralischen Konsum kämpfen, gebe es seitdem die sozial und ökologisch motivierten Konsumenten, die ihren Ansichten mit spezifischer Produktwahl an den Ladenkassen moralischen Ausdruck verleihen.
Solche Inszenierung von Moral hat der Philosoph Philipp Hübl unlängst hinterfragt. In seinem viel beachteten Buch "Moralspektakel" bezeichnete er moralische Statements im überhitzten Diskurs von heute als immer beliebtere Methode zur Selbstdarstellung und Statussymbolik. Eine kleine Bühne dafür ist auch der Einkauf im Supermarkt.
ULLA FÖLSING
Benjamin Möckel: Die Erfindung des moralischen Konsumenten, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 618 Seiten, 56 Euro. (Open-Access-Version auf der Internetseite des Verlags)
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