Besprechung vom 12.10.2024
Christine de Pizan und ihr feministischer Bautrupp
Eine der ersten französischen Schriftstellerinnen ist dank einer neuen Werkausgabe auf Deutsch zu entdecken.
Von Katharina Teutsch
Von Katharina Teutsch
Im Jahr 1405 erscheint das Buch einer in Frankreich lebenden Italienerin, das mit den souveränen Zeilen der Berufsschriftstellerin einsetzt: "Als ich eines Tages in meiner Studierstube saß, so wie ich es gewohnt war und es meinem Lebensrhythmus entsprach, umgeben von vielen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten, und mich dem Studium der Schriften widmete, da war mein Verstand es zu jener Stunde einigermaßen leid, die gewichtigen Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetzte, zu durchdenken."
Christine de Pizan war in dem Moment, wie sie in ihrer feministischen Utopie "Stadt der Frauen" von 1405 weiter ausführt, mehr nach "heiterer Dichtung" zumute. Und diese war mit dem Matheolus schnell gefunden. Dabei handelte es sich um die gereimten Lebensweisheiten eines französischen Geistlichen aus dem dreizehnten Jahrhundert. Ein lateinisches Buch, das bei Christine, die aus einem gebildeten Haus stammte, gerade als frisch französisierte Ware herumlag und von dem es hieß, es wüsste Gutes über das Geschlecht der Frauen zu berichten. Genau das Richtige, fand Christine, um sich zu "entspannen" von den gewichtigen Worten der Lehrsatzproduzenten, mit denen sie sich oft herumplagte.
Doch - oh Graus! - was musste die arme Christine da feststellen? "In meinem Inneren war ich verstört und fragte mich, welches der Grund, die Ursache dafür sein könnte, dass so viele und so verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und noch immer neigen, in ihren Reden, Abhandlungen und Schriften derartig viele teuflische Widerwärtigkeiten über Frauen und ihre Lebensweisen zu verbreiten. Und zwar nicht nur einer oder zwei oder nur jener literarisch völlig unbedeutende Matheolus, der Lügengewäsch verbreitet, nein: Überall, in allen möglichen Abhandlungen, scheinen Philosophen, Dichter, alle Redner (ihre Auflistung würde zu viel Raum beanspruchen) wie aus einem einzigen Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, dass nämlich Frauen in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise zu allen möglichen Formen des Lasters neigen."
Für Matthaeus von Boulogne, der etwa hundert Jahre vor Christine mit seinen "Klagen des Matheolus" einen "Klassiker des spätmittelalterlichen Sexismus" verfasst hatte - so die Übersetzerin Margarete Zimmermann in ihrem Nachwort -, ist die Sache klar: "Unter tausend Kriegen gibt es keinen einzigen, / Der nicht auf eine Frau und deren üble Brut zurückginge." Und deswegen versteigt er sich zu der Hypothese: "Bestünde das gesamte Meer aus Tinte, / Wäre die Erde mit all ihren Flächen und Wegen / Papier und Pergament, / Und wären alle Wälder Schreibfedern, / Um damit Notizen und Bücher zu verfassen, / Und fingen alle des Schreibens Kundigen / Sogleich und ohne Unterlass an zu schreiben: / So wären sie dennoch nicht in der Lage, / Alle Schmach und Schande darzulegen, / Aufzuschreiben, zu memorieren, / Zu künden oder auch nur zu registrieren, / Die dem weiblichen Geschlecht eigen sind."
Eines der von Matheolus beklagten Laster, wir wissen es alle, ist die Nutzung des eigenen Gehirns, um zum Beispiel den Lehrmeinungen oder auch nur den Leermeinungen der Männer zu widersprechen. Darin war Christine de Pizan eine Meisterin. Schließlich stammte sie aus einer Professorenfamilie. Ihr Vater Tommaso war ein venezianischer Vertreter der damals angesagten "Astrologia Medica", ein Wissenschaftler also, der an der Universität von Bologna unterrichtete und von König Karl V. an den Hof von Paris gerufen wurde, wo er eigentlich nur einen kurzen Karrierezwischenstopp machen wollte, sich dann aber auf Wunsch des Monarchen gezwungen sah, sein Leben einzurichten. Und so wächst Christine in der Sphäre des französischen Hochadels als glücklicher Blaustrumpf auf.
Doch dann stirbt der König. Sein Günstling Tommaso stürzt ab. Dann scheidet er, der vor lauter Sternenguckerei vergessen hatte, seine Familie rechtlich abzusichern, dahin. Schließlich stirbt auch noch Christines geliebter Ehemann Étienne mit nur 34 Jahren vermutlich an der Pest. "Damit öffnete sich die Pforte zu unserem Unglück, und ich, die ich noch sehr jung war, wurde hineingestoßen."
Von nun an geht es mit der jungen Mutter und ihrer Familie wirtschaftlich bergab. Christine plagt sich mit ihrer Trauer, mit der Einsamkeit der Exilantin, aber auch ganz konkret mit "Gläubigern, die jeden Tag zum Wohnhaus kommen, dort herumschreien, keifen und üble Witze reißen", wie sie in ihrem "Livre des Trois Vertus" schreibt. Hier und in zwei anderen autobiographischen Büchern ("Das Buch von der launischen Fortuna" und "Christines Vision"), die jetzt erstmals in kommentierten Auszügen auf Deutsch zugänglich gemacht werden und die Neuausgabe der "Stadt der Frauen" im Aviva Verlag ergänzen, kann man viel über ein intellektuelles Frauenleben an der Schwelle zur Neuzeit erfahren. Aber ebenso viel über die universellen Drangsale einer Frau, die durch Schicksalsschläge gezwungen ist, ihre Familie durchzubringen, und der das unter großen Anstrengungen auch gelingt. Den Abschluss ihres reichen literarischen Werks bildet im Jahr 1429 ein hymnisches Gedicht auf eine große Zeitgenossin: Jeanne d'Arc, die kurz darauf auf dem Scheiterhaufen landen wird.
Vermutlich stirbt Christine kurz davor. Da ihre frühfeministische Utopie von der "Stadt der Frauen" häufig mit Boccaccios "De mulieribus claris" (Von berühmten Frauen) verwechselt wird, gerät die mutige Autorin bald in Vergessenheit. Erst vor einem halben Jahrhundert wird die "Stadt der Frauen" von zwei Handschriftenexpertinnen transkribiert und bald vielfach übersetzt. Seitdem gilt Christine nicht nur als erste Berufsschriftstellerin, sondern auch als erste Feministin - je nachdem, ob man Sappho mitzählt oder nicht.
In ihrer "Stadt der Frauen" entwirft die empörte Matheolus-Leserin ein Gemeinwesen, in dem Frauen zum Segen aller das Sagen haben. Das Buch ist sich der literarischen Tradition, die es herausfordert, bewusst. Träumte Kirchenvater Augustinus "Vom Gottesstaat", träumt de Pizan von der Frauenstadt. Und zwar flankiert von drei Allegorien, die in der mittelalterlichen Literatur ein agiles Dasein beanspruchen: Gerechtigkeit, Rechtmäßigkeit und Vernunft (justice, droiture, raison) sind die Fundamente im Bauwerk dieser Stadt, die nicht nur ein Archiv ist für die kulturellen Leistungen von Frauen in der Menschheitsgeschichte, sondern auch "eine umfriedete Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer". Heute würde man vermutlich von einem safe space für Frauen sprechen.
Bei Christine de Pizan hat die Raumutopie weniger von einer karitativen Einrichtung, sondern dient der Gründung eines neuen Amazonengeschlechts. Das Zusammenleben dieser elitären Gruppe wird definiert durch besondere Leistungsbereitschaft, gute Organisation und das Vertrauen in - man möchte fast sagen aufklärerische - geistige Entwicklungsprozesse.
Tugend ist dabei die Türsteherin der Stadt der Frauen. Sie hatte damals noch nicht den Beigeschmack von frömmelnder Güte, sondern war ein Instrument der Selbstbestimmung. Margarete Zimmermann schreibt in ihrem Nachwort: "Selbstverwirklichung und zugleich der Verantwortung für ein Gemeinwesen oder für Mitmenschen". Und diese Verantwortung übernimmt man mithilfe seiner Vernunft, die dann im Buch als Allegorie auch beherzt die Bauleitung an sich reißt: "Jetzt fang an, Tochter! Lass uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinaus aufs Feld der Literatur gehen: Dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen aller Art. Nimm die Spitzhacke Deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es dir mein Lot anzeigt, und ich werde dir mit meinen eigenen Schultern helfen, die Erde fortzuschaffen." Klingt nach einer prima Baugruppe mit archäologischer wie philologischer Expertise. Das mythische Amazonenreich dient Christine als Vorbild, denn die Frauen in der Frauenstadt tun vor allem eins: Sie kennen den Kanon, sie lesen! Und das tat selbstverständlich auch Christine de Pizan ein Leben lang.
Hatte Christine in inniger Zwiesprache mit der antiken Philosophie noch in Bescheidenheitsfloskeln behauptet, sie hätte es nicht verdient, "die Bänder deines Schuhwerks zu lösen", so erweist sie sich im Laufe ihrer Karriere als eloquente, scharfsichtige und scharfzüngige Analytikerin ihres Zeitalters mit entsprechendem Bildungshintergrund. Es gab innerhalb der humanistischen Bewegung in Europa nur wenige Frauen, die derart hervortraten. Christine de Pizan war eine davon. In Frankreich gehört sie neben Olympe de Gouges, Simone de Beauvoir, Simone Veil und sechs weiteren Feministinnen zu den gerade der Seine entstiegenen güldenen Statuen, die anlässlich der Olympischen Spiele angefertigt worden waren. In Deutschland ist Christine noch ein Geheimtipp für Feminismushistorikerinnen. Das könnte sich dank der neuen Ausgaben ihrer wichtigsten Werke jetzt ändern.
Christine de Pizan:
"Ich, Christine".
Autobiografische Texte.
Hrsg. und aus dem Mittelfranzösischen von Margarete Zimmermann, Aviva Verlag, Berlin 2024. 144 S., geb., 20,- Euro.
Auslieferung 29. Oktober
Christine de Pizan:
"Das Buch von der Stadt der Frauen".
Hrsg. und aus dem Mittelfranzösischen von Margarete Zimmermann, Aviva Verlag,
Berlin 2024.
376 S., br.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu ""Ich, Christine"" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.