Zum Karriereende eines der größten Tennisspieler unserer Zeit blickt Bestseller-Autor Christopher Clarey auf die beeindruckende Bilanz von Rafael Nadal bei den French Open von Paris zurück. Dort, im legendären Tennisstadion Roland Garros, war der spanische Ausnahmeathlet lange Jahre über unbezwingbar. 14 seiner insgesamt 22 Grand-Slam-Titel gewann Nadal auf dem roten Sand von Paris - eine historische Bestmarke, der Clarey mit diesem Buch ein kongeniales Denkmal setzt.
Besprechung vom 26.05.2025
Rafael Nadals Gespür für Sand
Ein Monstrum für den Tennisriesen: Die neue Biographie über den Pariser Rekord-Champion bietet allerlei Amüsantes, Aufregendes und Abseitiges.
Vor 65 Jahren hat der Schriftsteller Michael Ende eine der bezauberndsten literarischen Figuren erfunden: den Scheinriesen. Er sieht aus der Ferne riesenhaft und furchteinflößend aus, aus der Nähe betrachtet entpuppt er sich aber als normal groß und freundlich. Im wahren Leben gibt es andere Ausnahmegestalten, bei denen es sich umgekehrt verhält zu Herrn Tur Tur aus Lummerland: Je näher man ihnen kommt, desto überlebensgrößer, kolossaler, mächtiger erscheinen sie. Rafael Nadal zum Beispiel war zeit seiner Karriere auf Sandplätzen eine Urgewalt, die umso stärker wirkte, je näher man ihr kam. Vor allem in Paris ließ der Spanier andere Sportgrößen wie Federer, Djokovic, Wawrinka oder Thiem aussehen wie Tenniszwerge.
Nadal, von Natur aus auf 185 Zentimeter gewachsen und auf ziegelmehligen Tennisplätzen zweifellos der Beste, den die Welt je gesehen hat, brachte viele Gegner schon zum Schlottern, wenn er vor ihren Augen in den Stadionkatakomben sein Aufwärmprogramm absolvierte. Wie ein wilder Stier kurz vor dem Loslassen in die Kampfarena wirkte der Mallorquiner mit seinen Kurzsprints den Gang entlang und seinen raumgreifenden Übungen. Der spanische Matador El Cordobés, der seinem Landsmann im French-Open-Halbfinale 2008 aus sicherer Entfernung von der Tribüne aus zusah, sagte danach: "Ich habe schon einige wilde Stiere gesehen, aber er macht mir Angst."
Die Statue, die Nadal zu Ehren 2021 auf der Tennisanlage von Roland-Garros errichtet wurde, zeigt ihn "nur" drei Meter groß. Auch wenn sportpolitisches Kalkül hineinspielte: Dass Nadal schon während seiner Profikarriere und dann noch als Nichtfranzose ein solches Denkmal erhielt, zeugt von seiner monströsen Bedeutung. Jedes seiner Endspiele auf dem Pariser Court Chatrier hat der Spanier gewonnen, zwischen seinem Debüt 2005 und dem Karriereende im vergangenen Herbst nur vier seiner 116 Matches in Roland Garros verloren. Nadals 14 Triumphe bei ein und demselben Grand-Slam-Turnier bildeten "die vielleicht phänomenalste Leistung im Individualsport des 21. Jahrhunderts", schreibt Christopher Clarey in seiner gerade erschienenen Biographie "Rafael Nadal - Der Sandplatzkönig". Und weiter: "Für mich ist das die beeindruckendste Statistik seiner Karriere, das untrügliche Zeichen eines wahren Champions, der nicht nur über die nötige Ausdauer verfügte, sondern sich auch genau dann zu Höchstleistungen treiben konnte, wenn er diese am meisten benötigte." Wie Nadal das gelungen ist und warum vor allem auf Sand, gehört zu den zentralen Fragen, denen der frühere Tenniskorrespondent der "New York Times" in seinem Werk voller aktueller Einblicke, historischer Herleitungen und amüsanter Anekdoten nachgeht. Zum Beispiel jener von Nicolas Almagro, der mitten im Viertelfinalmatch gegen seinen 22 Jahre alten Landsmann Nadal frustriert seinem Trainer zurief: "Der wird auch mit 65 noch gewinnen." Bekanntlich wird es dazu nicht mehr kommen.
Um Rekorde ist es Nadal, anders als Djokovic, nie gegangen. Zwar begeistere er sich über die Leistungen von LeBron James, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo und sei "Fan von ihnen". Mit seinem Leben sei er aber glücklich: "Ich brauche für mich nicht diesen Wunsch oder diese Manie, noch mehr erreichen zu wollen."
Über Schrullen und Rituale des 22-maligen Grand-Slam-Champions, den alle "Rafa" nennen, ist schon vieles geschrieben worden: über das Herumgezupfe an der Hose, die Aufstellung der Flaschen vor der Bank, die anfänglichen Probleme mit der englischen Sprache und so weiter. Doch Señor Nadals Gespür für Sand schlägt alles. Wie Clarey schreibt, nahm Nadal vor Turnierbeginn stets eine Prise Ziegelmehl vom Boden, zerrieb sie zwischen den Fingern und testete so die Körnigkeit, um ein Gefühl für die Platzeigenschaften zu bekommen. Trainingseinheiten unterbrach Nadal in Paris gelegentlich, weil er auf der anderen Platzseite an einer kleinen Stelle einen Tick zu viel Sand erkannte. Auch wie man sich auf dem Untergrund bewegt, wusste keiner besser als der Spanier. Er habe nie so leichtfüßig gewirkt wie sein Rivale Roger Federer, schreibt Clarey über Nadals Choreographie des Rutschens, bei der es auf absolute Muskelkontrolle, Präzision und Timing ankomme: "Doch in Nadals Raubtierstyle lag eine sehr eigene, majestätische Art."
Seine Schläge taten ihr Übriges; vor allem seine Vorhand, geschlagen mit mehr Spin als jeder andere und mit einem Ausschwung steil über den Kopf. Furchteinflößend, aber nicht wie aus dem Lehrbuch, findet Clarey: "Sie wirkte eher handwerklich als maschinell, eher grob als elegant." Basierend auf seiner Vorhand, blieb Nadals Spielweise im Prinzip stets gleich: Dank seiner Topspin-Schläge drängte er die Gegner hinter die Grundlinie, lauerte auf einen Defensivschlag, der zu kurz oder zu unplatziert geriet, und haute ihnen den Ball dann um die Ohren. "Du weißt, was kommt, kannst aber nichts dagegen machen", zitiert Clarey den früheren französischen Profi Gilles Simon. Gegen Karriereende versuchte Nadal, Ballwechsel schneller zu beenden, indem er öfter ans Netz rückte und früher den Gewinnschlag suchte. Zumal Djokovic mit fremder Hilfe irgendwann bemerkte, dass der Spanier auf der Vorhandseite verletzlicher war als gedacht.
Viel Weiteres, was Nadal als Tennisprofi ausmachte, erklärt Clarey im Detail: seinen Ansporn, seine Resilienz, die Bedeutung seines Trainer-Onkels Toni und des gesamten Nadal-Clans. Auch die Schattenseiten kommen nicht zu kurz: das Schindluder, das "Rafa" mit seinem Körper trieb, die während der Corona-Pandemie erkaltete Beziehung zu Djokovic, die Dopinggerüchte, die von französischen Medien zugespitzt verbreitet wurden. Die Verdächtigungen führten ebenso zu Verwerfungen zwischen Nadal und den Franzosen wie die gelegentlichen Feindseligkeiten des Pariser Publikums, das von der Siegesserie des Spaniers gelangweilt war und lieber den Gegner siegen sehen wollte.
Clarey hat sich aber mehr vorgenommen, als die Erfolgs- und Verletzungsgeschichte aus Nadals Autobiographie von 2011 fortzuschreiben und mit externer Expertise anzureichern. In gewissem Sinne ist das Werk des renommierten Sportjournalisten selbst ein Monstrum: Clarey erzählt um Nadals Karriere herum vieles, was mit der Geschichte des Sandplatztennis, der Historie der französischen Tennismeisterschaften, der Erweiterung der Anlage von Roland Garros und sogar seinem eigenen Lebensweg zu tun hat. Das alles ist gut recherchiert und lehrreich, erscheint aber mitunter etwas konstruiert und zäh. Anscheinend beschlich den Autor selbst der Verdacht, dass sich sein neuestes Werk weniger aus einem Guss liest als seine vor vier Jahren erschienene Federer-Biographie. Beim Verfassen von "Der Maestro" sei er in einen "Flow-Zustand" geraten, schreibt Clarey. "Wenn man über Nadal schreibt, hat man das Gefühl, die Anstrengung körperlich spüren zu müssen, das Brennen, während man die Erzählung Ziegelstein für Ziegelstein aufschichtet und gelegentlich an seiner Jogginghose herumzupft, damit es am Laptop rundläuft." Dem Leser entgeht diese Anstrengung nicht. Gleichwohl ist es ein großes Buch über einen Riesen geworden. THOMAS KLEMM
Besprochenes Buch:
Christopher Clarey:
Rafael Nadal - Der Sandplatzkönig. Verlag Edel Sports, 2025, 416 Seiten
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