Als Didier Eribons Betrachtungen zur Schwulenfrage 1999 in Frankreich erschienen, wurde das als Ereignis gefeiert. Schnell etabliert sich das Buch als Klassiker und Gründungsdokument der Queer Studies. Eribon legt darin eine neue Analyse der Bildung von Minderheitenidentitäten vor, an deren Anfang die Beleidigung steht. Es geht um die Macht der Sprache und der Stigmatisierung, um die Gewalt verletzender Worte im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft und der Mechanismen ihrer Reproduktion. Nun liegt das Werk erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Eribons Analyse setzt ein mit einer fulminanten »Sozialanthropologie« der gelebten Erfahrung, in der zentrale Etappen der Konstitution einer homosexuellen Identität nachgezeichnet werden. Auf sie folgt eine historische Rekonstruktion der literarischen und intellektuellen Dissidenz sowie der »homosexuellen« Rede - von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zu André Gide im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung mündet in einer Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand. In der brillanten Verknüpfung von Soziologie, Literatur und Philosophie bietet dieses große Buch mehr denn je Werkzeuge für all jene, die über Differenz und Emanzipation nachdenken wollen.
Besprechung vom 19.01.2020
Die Erfahrung des Ausschlusses
Plädoyer für ein anderes, offeneres Leben: Didier Eribons "Betrachtungen zur Schwulenfrage" sind ein beeindruckendes Stück wissenschaftliche Bekenntnisliteratur
Didier Eribons Buch "Betrachtungen zur Schwulenfrage" wurde in Frankreich zum ersten Mal 1999 veröffentlicht. Das war zehn Jahre vor seinem autobiographischen und soziologischen Versuch "Retour à Reims", der 2016 unter dem Titel "Rückkehr nach Reims" auf Deutsch erschien. Das Buch machte den Autor hierzulande weitläufig bekannt. Ein Jahre später brachte sein deutscher Verlag den Nachfolgeband "Gesellschaft als Urteil" heraus, in Frankreich 2013 publiziert. Hier ging es wieder um dieselbe Lebensfrage nach dem Zusammenhang von Herkunft, Klasse, Identität und Beruf, dieses Mal nur auf einer mehr theoretischen Grundlage.
Eribon ist ein Arbeiterkind, und er ist schwul. Vor dem Hintergrund seiner Schriften sind dies zwei entscheidende Merkmale, insbesondere für einen Intellektuellen, der sich an seine soziale Herkunft nur mit Widerwillen, Scheu und Scham erinnert und nur mit Ressentiment und trotziger Selbstbehauptung an die Hindernisse, seien es Strukturen, Klassen oder Schichten, zu denken vermag, die ihm bei seiner schulischen und universitären Ausbildung sowie auf dem beruflichen Werdegang, seiner Ansicht nach, in den Weg gelegt worden waren. Der Eindruck, den Eribon auf deutsche Leser machte, entspricht nicht dem Eindruck, den er bei französischen Lesern weckte, die seinen Publikationen chronologisch folgen konnten. Zeigte sich hier zuerst das Arbeiterkind, so dort der Homosexuelle. Mochten sich deutsche Leser ärgern über das Selbstmitleid eines Intellektuellen, der sich durch seine soziale Herkunft im Wettbewerb um Bildung, Titel und Stelle benachteiligt glaubte, so wussten französische Leser es besser. Dank der Veröffentlichung der "Betrachtungen zur Schwulenfrage" konnten sie wissen, dass dieser Klage Eribons, die sich in eine klassenkämpferische Theorie ergoss, eine heftige Irritation zugrunde lag, die fundamentale Erfahrung, von der Ordnung der Heterosexuellen, die das private und das öffentliche Leben prägte, ausgeschlossen zu sein und zu den ins Abseits gedrückten Anomalen zu gehören. Irgendwann ahnte, wusste, erfuhr der junge Eribon, dass er schwul war. Was bedeutete diese Ahnung, dieses Wissen, diese Erfahrung für ihn?
Aus dieser Überwältigung durch eine grundlegende Unterscheidung, aus der Einsicht in deren existentielle Kraft sind die "Betrachtungen zur Schwulenfrage" entstanden. Sie sind in drei große Abschnitte unterteilt. Im ersten geht es darum, zu analysieren, was psychologisch, sozial und kulturell passiert, wenn Schwule von Heterosexuellen als Schwule beleidigt und angegriffen werden. Für Eribon ist die Beleidigung, die verbale Attacke, die die Angst vor körperlichen Übergriffen weckt, der erste und zentrale Akt einer Ausgrenzung und Diffamierung, die das weitere Leben, das Selbstgefühl und Selbstverständnis des Homosexuellen entscheidend prägen.
Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Homosexualität im 19. und 20. Jahrhundert, im Werk und Leben von Marcel Proust, Oscar Wilde und André Gide, in wissenschaftlichen Forschungen aus England und Deutschland, die von der gleichgeschlechtlichen Liebe im alten Griechenland handelten, sowie in zeitgenössischen Auffassungen von Ärzten. Der dritte folgt Michel Foucaults historischen Analysen des widerspenstigen Lebens, ausgehend von der frühen Untersuchung über die Macht der psychiatrischen Diskurse in "Wahnsinn und Gesellschaft" und den Vorlesungen über die Anomalen bis hin zum späten Projekt einer viele Jahrhunderte früher ansetzenden Geschichte der Sexualität, beginnend mit dem Band "Der Wille zum Wissen", dem drei Bände über die antike und frühchristliche Sorge um die eigene Existenz folgten. In der Sorge um sich sah Foucault ein Vorbild zu einer modernen Ästhetik der Existenz, zu reflektierter schwuler Selbsterfahrung und schwuler Selbsterfindung, eine philosophische und theologische Aufforderung zu einem radikal neuen, die herrschende Ordnung durchbrechenden Lebensentwurf.
Die "Betrachtungen zur Schwulenfrage" fesseln nicht nur mit ihrem reichen Material, sondern vor allem dank dem dialektischen Drang eines Autors, der von der ersten Seite an nicht verbergen möchte, dass er sich in diesem Buch mit einem höheren Recht zu Wort meldet. Sein Engagement rechtfertigt sich nicht aus wissenschaftlichen Gründen, denen sich jeder überantworten könnte. Er redet in eigener Sache. Es geht um seine Existenz, um seine Lebenserfahrungen. Diese unauflösbare Vermischung der Ebenen, des Subjektiven und des Objektiven, von Person und Gegenstand, fiel, um nur ein Beispiel zu nennen, bei einer berühmten Studie über Liebe als Passion, die 1984 erschien, nicht auf. Dort schrieb ein Heterosexueller, der ein Soziologe war und Niklas Luhmann hieß, über heterosexuelle Gefühle, Beziehung und Kommunikation, über heterosexuelle Autoren und ihre Werke. Er tat dies innerhalb einer heterosexuellen Kultur, mit der Ruhe und Distanz, die hat, wer sich zu einer Normalität rechnen kann, die von ersten, grundlegenden Unterscheidungen, Mann, Frau und dass sie als Paar zusammengehören, gebildet wird.
Diese Ruhe und Distanz fehlen Eribon. Er kennt die existentielle Irritation, nicht zu den Normalen zu gehören. Er musste sich in der Normalität durchsetzen, indem er sich gegen sie behauptete. Im Kapitel über die Homosexualität im 19. und 20. Jahrhundert wird er wiederholt auf diesen Spiegelungseffekt hinweisen, wie heftig die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis der Homosexuellen von den Beschreibungen und Definitionen, die Heterosexuelle über sie anfertigten, beeinflusst wurden. Waren Homosexuelle verweiblichte Männer, die Männer suchten, das heißt, nach echten Kerlen Ausschau hielten, die in diesem Fall keine Homosexuellen waren, oder waren sie Männer, die eine Vorliebe für Knaben hatten? Nicht alle homosexuellen Schriftsteller nahmen ihre Erfahrungen gegen die wissenschaftlichen Offensiven ihrer Zeit in Schutz. Prousts homosexueller Held Baron de Charlus war auf prototypische Weise effeminiert, aber Proust selbst hielt sich etwas darauf zugute, in einem Duell mit Pistolen seinen Mann gestanden zu haben. André Gide mochte sich mit Prousts literarischer Engführung nicht zufriedengeben und setzte auf den virilen homosexuellen Mann, dem Altphilologen antike Vorfahren als Modelle zur Seite stellten.
Die Unruhe und Leidenschaft, mit der Eribon die "Betrachtungen zur Schwulenfrage" schrieb, wird genährt von der homosexuellen Erfahrung, sich verstecken, in Acht nehmen zu müssen vor den heterosexuellen Anfeindungen und gleichzeitig vorsichtig und wach zu sein, um den kulturellen heterosexuellen Zugriffen auf die eigene Identität zu entgehen. Diese Bewegung zwischen Zögern, Zurückhaltung und Angst auf der einen Seite und Autorschaft in eigener Sache auf der anderen hat nicht nur Eribons Leben bestimmt zwischen Flucht und Exil, sondern auch sein Denken zwischen unablässiger Kritik und der Suche nach Solidarität. Foucaults Eloge auf die Freundschaft meint diesen schwulen solidarischen Zusammenhalt, der ein anderes, freieres, offeneres Leben verspricht, dessen Gründungsakt nicht die homosexuelle Sexualität ist, dass irgendwo zwei Männer miteinander ins Bett gehen, sondern das in aller Öffentlichkeit ausgelebte schwule Verhalten.
Es sieht so aus, als hätte der Sohn die schwierige, letztlich missglückte Rückkehr nach Reims, aus der er nur eine kämpferische Theorie der Klassen zu destillieren vermochte, erst antreten können, nachdem er sich öffentlich in die Geschichte der Homosexuellen und in die Riege ihrer intellektuellen Protagonisten eingegliedert hatte. In dem vorliegenden Buch beschreibt er die Sehnsucht der Schwulen nach der rettenden urbanen Subkultur der Homosexuellen, die Schutz bietet vor Beleidigungen und Attacken. Mit dem Selbstbewusstsein, das er hier, auch als Schüler und Biograph Foucaults, gegen alle Widrigkeiten der heterosexuellen Kultur gewann, machte er sich auf zur Rückkehr nach Reims, um die soziale Scham, die er als eine Art struktureller Beleidigung empfand, zu überwinden. Er trat den Weg vergeblich an. Der schwule Intellektuelle, der sich für diese Begegnung mit den subtilen Theorien des Gesellschaftsanalytikers Pierre Bourdieu gewappnet hatte, verließ im Innern sein neues Milieu nicht. Er ging nach Reims mit dem Rücken voran, mit abgewandtem Gesicht. Er wollte kein schwules Arbeiterkind sein.
Eribons "Betrachtungen zur Schwulenfrage" sind ein in der Dialektik von Theorie und Leidenschaft sehr ehrliches, sehr gelungenes Buch, ein wissenschaftliches Gegenstück zur literarischen Bekenntnisliteratur, ein beeindruckendes Werk auf der Suche nach einer zu gewinnenden schwulen Zeit.
EBERHARD RATHGEB
Didier Eribon: "Betrachtungen zur Schwulenfrage". Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, 600 Seiten
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