Besprechung vom 27.12.2024
Dem Göttlichen so nah
Von Schamanen, die Brücken ins Jenseits bauen, zu weltweit vermarkteten Substanzen: Erika Dyck erzählt die Kulturgeschichte der Psychedelika.
In einer Folge der britischen Serie "Industry" kommt es zu einer Szene, die anscheinend nicht mehr fehlen darf, wenn Befindlichkeiten unserer Gegenwart abgebildet werden sollen. "Industry" handelt von einer Gruppe junger Investmentbanker in London. Sie sind ehrgeizig, folgen skrupellos ihren Interessen, sind berufsbedingt auf der Jagd nach Geld, alle auf ihre Art verkorkst und permanent bekokst. Im Konkurrenzkampf verletzen sie sich stets. Der Nachteil der einen ist der Vorteil des anderen. Das kapitalistische "Rat Race" ist so überzeichnet, dass die Serie auch ohne Weiteres als Satire auf das Finanzwesen durchgeht. In besagter Folge lädt nun ein ökologisch camouflierter Start-up-Unternehmer von ultrareicher Herkunft einen der jungen Banker zu einer Ayahuasca-Zeremonie ein. Gemeinsam trinken sie das psychedelischen Gebräu unter Anleitung aus Südamerika angereister Schamanen.
Der Banker schließt während des Trips Frieden mit seiner manipulativen Mutter und sucht sich danach einen neuen Job. Das Herz des Start-uppers wird ganz weich, er spricht nur noch sanft flüsternd und übt sich in gewaltfreier Kommunikation. Die psychedelische Erfahrung habe zu einem "Re-centering" geführt, sagt er, er wisse nun, was wichtig sei: Empathie, Austausch und Verständnis für die eigenen Schwächen und die der anderen.
Mit dem Hinweis auf dieses "Re-centering" nimmt die Serie ein Versprechen auf, das der psychedelischen Erfahrung in unserer Zeit oft zugeschrieben wird. Vor allem in den Marketingtexten von Ayahuasca- oder Magic-Mushroom-Retreats. An diesen Orten, rund um den Globus verteilt, könnten von den Brüchen der Spätmoderne deformierte Westler ihr Selbst wieder zusammenfügen. Sie würden wieder einen klaren Blick auf sich gewinnen, sich ihrer Traumata entledigen und gewahren, welche Dinge für ein erfülltes Leben entscheidend sind. Für viele klappt das sogar. Wenn auch meistens nur für ein paar Wochen, bis der zehrende Alltag alle Erkenntnisse wieder verdeckt.
Der Wunsch nach dem raschen Reset durch LSD, DMT oder Psilocybin ist mittlerweile ein fester Eintrag auf der Bucketlist urbaner Milieus, worauf eine Zeitgeist-Serie wie "Industry" natürlich reagiert. Dieser Wunsch, mit einem ekstatischen Schlag eine verbesserte Version seiner selbst zu werden, ist eine der aktuellen Verzweigungen in der wechselvollen Geschichte psychedelischer Substanzen, und sie fehlt leider in Eva Dycks "Kulturgeschichte der Psychedelika", das durchaus lesenswert, aber doch auch etwas altbacken ist.
Ein Vorzug des Buchs ist seine Zugänglichkeit. Erika Dyck spannt einen weiten Bogen vom alten Ägypten und dem vorvedischen Indien über das zwanzigste Jahrhundert bis heute. Sie beschreibt in kurzen und reich bebilderten Kapiteln, welchen Einfluss Ayahuasca, Magic Mushrooms oder LSD auf Menschen in verschiedenen Kulturkreisen und Zeitaltern hatten. So bietet sich das Buch eher für die schnelle, an Anekdoten interessierte Lektüre an denn als tiefgreifendes Kompendium, ist dabei aber durchaus unterhaltsam. Denn erstaunliche Dinge gibt es auch so zu entdecken. Etwa, dass die Verwendung psychedelischer Pilze im antiken Ägypten in elitären Kreisen durchaus üblich war oder dass Iboga, das sehr potente Psychedelikum aus Gabun, schon im Frankreich der 1940er-Jahre in niedriger Dosierung als Stimulans und in den 1950er-Jahren in den USA als Heilmittel für Morphinsucht verwendet wurde. Ein Ansatz, der auch heute wieder die Leiden Opioidsüchtiger lindern soll.
Die menschliche Geschichte ist mit dem Gebrauch von Psychedelika eng verwoben, das betont das Buch durchweg. Sie waren immer spirituelle Mittler, um einem wie auch immer gearteten Göttlichen näher zu kommen oder mit ihm zu verschmelzen. Sie gelten schon lange als Werkzeug, um die Pforten zum Unbewussten aufzuschließen, sie waren Treibstoff für Umwälzungen, etwa der Flower-Power-Bewegung oder der digitalen Revolution im Silicon Valley. Sie waren und sind ein Weg, eine andere, möglicherweise unverstellte Perspektive auf sich selbst und die Welt, die einen umgibt, einzunehmen und nicht selten eine enge Verbindung zu ihr zu spüren. Einen Baum zu umarmen verliert dann jeglichen Anflug von Irrsinn. Und sie waren selbstverständlich auch immer Ziel von Diffamierung, Unterdrückung, Verboten und Antidrogenkampagnen.
Ein Reiz in diesem schnellen Lauf durch die Geschichte liegt auch darin, dass sich unverstellt zeigt, was passierte, als (nicht nur) psychedelische Substanzen von den indigenen Gemeinschaften Südamerikas in den industrialisierten Westen gelangten. Vom schamanischen Brückenbauer ins Jenseits oder in eine Welt neben der Welt wurden sie zu weltweit vermarkteten Medikamenten, zu potenzierten synthetisierten Stoffen, gewonnen aus den Ursprungssubstanzen. Besonders deutsche Chemiker waren auf diesem Feld überaus talentiert. 1897 isolierten sie aus dem schon Hunderte Jahre vor Christus rituell in Süd- und Mittelamerika genutzten San-Petro-Kaktus Meskalin; fünfzig Jahre zuvor war das schon mit dem Alkaloid Kokain aus dem Kokastrauch gelungen und beinahe hundert Jahre vorher mit Morphin aus dem Saft des Schlafmohns. Timothy Learys Bezeichnung Deutschlands als "Fatherland of drugs" trifft also ganz und gar zu.
Erika Dycks Gleitflug durch die Geschichte ist demnach trotz des recht oberflächlichen Blicks breit gefächert. Man merkt, dass er sich großem Wissen verdankt. Die Autorin, Professorin für Geschichte an der University of Saskatchewan, ist eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Psychedelika-Forschung und hat mehrere Bücher veröffentlicht, die sich mit der Geschichte und Gegenwart der Psychedelika auseinandersetzen. Etwa im Vorjahr den Sammelband "Expanding Mindscapes: A Global History of Psychedelics" (MIT Press), dessen kleine Schwester der vorliegende, reich bebilderte und mit "psychedelischer" Farbgebung spielende Band ist, der im Original den Titel "Psychedelics - A Visual Odyssey" trägt.
In ihm nimmt sie Themen aus den gut recherchierten Aufsätzen des Sammelbands auf und ordnet sie neu. Darin liegt der Reiz, einen lockereren Einstieg in eine ausufernde Thematik zu bekommen. Der knappe Raum fordert allerdings auch Beschränkungen, und die gehen auf Kosten der Gegenwart. Das ist ein Wermutstropfen, denn die Rolle von Psychedelika, vor allem MDMA, in der sich in den späten 1980er-Jahren entwickelnden Rave-Szene kommt überhaupt nicht vor. Obwohl diese Bewegung bis heute einen erheblichen Anteil an der psychedelischen Renaissance hat. Dort kamen viele Menschen verschiedener Milieus das erste Mal mit diesen Substanzen in Berührung, und ihr Gebrauch normalisierte sich dadurch zu einem gewissen Grad bis ins konservative Bürgertum hinein. Auch andere überraschende Einblicke aus dem Sammelband fehlen, etwa der offenbar verbreitete Ayahuasca-Konsum unter chinesischen Tech-Unternehmern, wie ihn der australische Anthropologe Alex K. Gearin in Dycks Sammelband und in seinem gerade erschienenen Buch "Global Ayahuasca: Wondrous Visions and Modern Worlds" (Stanford University Press) beschreibt.
Ein bisschen weniger Historie - die ja auch schon an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurde, etwa in den Büchern des vor zwei Jahren verstorbenen Ethnoanthropologen Christian Rätsch - und mehr psychedelische Gegenwart hätten dem Buch also gutgetan. Denn die ist, mit all ihren Verzweigungen und globalen Ausprägungen, nicht minder interessant. BENEDIKT SARREITER
Erika Dyck: "Rausch".
Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe.
Haupt Verlag,
Bern 2024. 224 S., Abb., geb.
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