Als Gerhard Roth im Februar 2022 starb, war sein neues Buch zu etwa zwei Dritteln fertig - in einer handschriftlichen Fassung in seinen Notizbüchern. Es ist eine Reise durchs Totenreich, die der Erzähler Franz Lindner als Verstorbener unternimmt. Die Reise führt durch Ägypten, ein Land, das Gerhard Roth immer wieder bereist hat. Dort, im Fegefeuer der Totenstadt Kairo, begegnet Franz Lindner einer Fülle von realen Figuren - vor allem Künstlerinnen und Künstlern aller Sparten, die Gerhard Roth in seinem Leben wichtig waren. Sein Romanfragment ist eine große Hommage an diese Persönlichkeiten und zugleich ein letztes Nachdenken über den Menschen, seine Hoffnungen, seine Kreativität, seine Grenzen. Und ein Selbstporträt des Autors, der mit diesem Buch - in dem alles möglich ist - das Reich der Freiheit erreicht hat.
Besprechung vom 26.11.2024
Im Park der großen Not
Gerhard Roths Nachlass-Roman "Jenseitsreise" liefert nur oberflächliche Antworten auf profunde Fragen
Literarischer Triumph und künstlerisches Misslingen, bei wenigen deutschsprachigen Gegenwartsautoren gehört beides so eng zusammen wie bei dem 2022 verstorbenen Gerhard Roth. Während der Achtzigerjahre gelang dem österreichischen Autor mit dem achtbändigen Zyklus "Die Archive des Schweigens" ein veritables Meisterwerk. Roth glückte mit dem aus realistischen, phantastischen, dokumentarischen und essayistischen Schreibweisen bestehenden Zyklus ein zwischen steirischer Provinz und der Metropole Wien aufgespanntes intermediales Erzählexperiment.
Sein Ziel: mit literarischen Mitteln den verborgenen Konstanten der österreichischen Geschichte auf die Spur zu kommen, die verdrängten Archive des Schweigens zu öffnen. Roths Spurensuche zeichnete den unseligen Entwicklungsgang der österreichischen Geschichte von der Habsburgerherrschaft bis in die faschistische Katastrophe nach und kritisierte deren vielfältige Kontinuitäten: unterschwellige Gewaltbereitschaft, Hass auf alles Fremde, willfähriges Obrigkeitsdenken und Führerverehrung.
Als Doktorand von W. G. Sebald schrieb ich vor drei Jahrzehnten meine Dissertation über diese bemerkenswerte künstlerische Leistung, in deren Zentrum das Erzählwerk "Landläufiger Tod" von 1984 steht. Ein Jahrhundertroman, der anhand der steirischen Dorfwelt eine poetische Universalgeschichte der Menschheit, und noch mehr darüber hinaus, mit den ephemeren Mitteln der Literatur erschaffen hat. Nach der in den "Archiven des Schweigens" unternommenen Pathographie seines Heimatlandes schickte Roth seine Protagonisten im abermals achtbändigen Zyklus "Orkus" (1995 bis 2011) nun auf Reisen in die weite Welt. Diese hatte er zuvor selber unternommen; gekleidet in Krimihandlungen, vermochte Roth daher detailgesättigt von fiktiven Abenteuern in Japan, Ägypten und auf dem Berg Athos zu berichten. Doch seine Bücher gerieten dabei mehr und mehr zu literarischen Reiseführern im spannenden Krimigewand.
Bestand die eminente Stärke der "Archive des Schweigens" darin, sich beim Schreiben durch Zufälle auf Abwege führen zu lassen und die wirklichkeitsverpflichtete Fundierung der Texte durch die Strahlkraft der poetischen Imagination in eine Literatur sondergleichen zu verwandeln, war der "Orkus"-Zyklus bis in Einzelheiten durchgeplant. Roth wurde so zum Exekutor seiner Entwürfe am Reißbrett. Irgendwann kam ihm dabei die Literatur abhanden. Seine Methode gerann zur Masche, die er in den nachfolgenden Romanen beibehielt.
Dass man über Tote nur Gutes reden darf, mag vornehmlich verantwortlich sein dafür, dass die Literaturkritik sowohl den zum Vermächtnis verklärten postum veröffentlichten Roman "Die Imker" (2022) wie das nun aus dem Nachlass erschienene Romanfragment "Jenseitsreise" wohlwollend aufgenommen hat. "Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht", lautet das Motto von "Jenseitsreise". Doch das Gegenteil ist der Fall. Es ist es ein schnell durchschaubarer Roman geworden, ein in literarischer Hinsicht leichtgewichtiges Werk. Dass der schwer krebskranke Roth, wortwörtlich, um sein Leben schrieb, ist beiden Spätwerken überdeutlich anzumerken.
Augenfällige Schwächen der Bücher seit der Jahrtausendwende verstärken sich darin markant. So etwa, dass Roth die Vielzahl der toten Autoren, Künstler oder Philosophen, denen sein Alter Ego während dessen Jenseitsreise begegnet, allesamt im gleichen Duktus erzählen lässt. Egal ob Shakespeare oder Dante, Hannah Arendt oder Maria Sibylla Merian, alle berichten auf Gymnasialniveau von ihrem Leben und Denken, und dies in einem didaktischen Tonfall, was die Sache nicht besser macht.
Verfasst ein todgeweihter Autor einen "Jenseitsreise" betitelten Roman, in dem erwartungsgemäß profunde Fragen der Metaphysik angerissen werden, kann es doch kaum eine gute Idee sein, sich eines Protagonisten als Sprachrohr zu bedienen, der als "Verrückter" nur die oberflächlichsten Antworten darauf zu liefern vermag - welche zudem längst aus vorhergehenden Büchern vertraut sind. Frühromantische Spekulationen etwa über die geheime Sprache der Tiere und die Träume der Pflanzen. Oder der altbekannte Verdacht, dass wir alle eine große Lüge leben und die Wirklichkeit gar nicht das ist, wofür wir sie halten.
Nachgerade peinlich wird es, wenn Roth das immense Leiden trivialisiert, das Faschismus wie Kommunismus in die Welt getragen haben, indem er einen fiktiven Karl Marx zunächst intellektuell unterkomplex über die bekannte Sentenz von der "Religion als Opium des Volkes" philosophieren lässt, bevor der Philosoph den Erzähler in den "Park der großen Not" führt, wo "Hitler und seine Frau Eva Braun zusammen Kackwürste aus Scheiße essen (. . .) Stalin prostete uns mit Urinscheiße zu, einem Mixgetränk, das er angeblich sehr liebte. Marx nickte mit dem Kopf und übersah geflissentlich Lenin, der ihm zuwinkte."
Bereits "Die Imker" war nur ein Aufguss dessen, wozu Roth einmal fähig war; mit der Publikation der "Jenseitsreise" hat man diesem bedeutenden Schriftsteller erst recht einen Bärendienst erwiesen. Ist es ein Sakrileg, dies auszusprechen? Voltaire gab zu bedenken, dass wir den Lebenden Rücksichtnahme, den Toten aber die Wahrheit schulden. Mein Doktorvater erklärte mir einmal, dass ein Autor dankbar sein darf, wenn ihm ein Buch gelungen ist, das literarischen Bestand haben wird. Er meinte damit den "Landläufigen Tod". Leser, die Gerhard Roth noch nicht kennen, und das sind ohnehin noch immer zu viele, sollten lieber zur 2017 erschienenen Neuausgabe dieses außerordentlichen Romans greifen. UWE SCHÜTTE
Gerhard Roth:
"Jenseitsreise". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
416 S., geb.
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