Ich muss zugeben, dass bei dem neuen Ian McEwan der Funke leider nicht übergesprungen ist. Vielleicht hatte ich falsche Erwartungen. Laut Ankündigung des Verlages entwirft McEwan hier "meisterhaft eine zukünftige Welt". Doch im ersten Drittel referiert der Erzähler in aller Breite über ein legendäres Abendessen, das der Dichter Francis Blundy vor über hundert Jahren abgehalten hat. Anlässlich des Geburtstages seiner Frau Vivien trägt er vor Freunden einen Sonettenkranz vor, der seitdem als verschollen gilt. Der Erzähler Tom entwickelt eine fast schon manische Obsession für das Gedicht und will es unbedingt aufspüren.
Der Leser kann diese Obsession aber nicht teilen. Statt dieser verlorenen Zeit und dem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Blundy und Vivien nachzuspüren, würde man viel lieber wissen, wie es sich Anfang des 22. Jahrhunderts lebt. Immerhin bekommen wir Andeutungen. Es hat eine große Überflutung und Disruption gegeben. Seitdem sind drei Viertel aller Pflanzen- und Tierarten ausgestorben. Das Essen ist karg und man fährt nicht mehr Auto sondern Fahrrad. Das Reisen ist strapaziös und langwierig geworden. Es herrscht Rohstoffarmut und Nigeria scheint die stärkste Wirtschaftsmacht zu sein. Kleine Atomkriege werden von KIs ausgelöst, die aber nur ein paar Millionen Menschenleben kosten.
Da ist es verständlich, dass Tom lieber hundert Jahre früher gelebt hätte und die lange verstorbene Vivien (oder sein Bild von ihr) mehr liebt als seine eigene Frau. Und als er Viviens letztes Tagebuch findet, wird das Geheimnis um den Sonettenkranz endlich gelüftet.
Doch das gerät alles zu langatmig. Ich habe von McEwan schon sehr viel Besseres gelesen.