Ihr müsst keine Angst haben. Ich bin nicht sterbenskrank. Es ist nur - also, meine Hände, die zittern manchmal, das ist euch bestimmt schon aufgefallen. Und meine Füße, in denen kribbelt es. Dann stolpere ich. Irgendwann könnte es dazu kommen, dass ich nicht mehr so gut Treppen steigen und keine weiten Strecken mehr laufen kann.
Anne ist 8, ihr Bruder Kai sechs Jahre älter, als ihre Mutter die Diagnose Multiple Sklerose erhält. Nur zwei Jahre später verschlechtert sich der Zustand der Erkrankten rapide, doch statt sich Hilfe zu holen, beansprucht diese Mutter die Hilfe und Pflege, die sie benötigt, von ihren Kindern. Und damit meine ich alle Pflege, die jemand benötigt, der nicht mehr mobil ist, seinen Körper nicht mehr selbst pflegen kann, eigentlich gar nichts mehr machen kann.
Anne und Kai, die nicht den gleichen Vater haben und auch keinen oder nur sehr wenig und sporadischen Kontakt zu Selbigen haben, lieben ihre Mutter sehr und folgen ihrem Apell der Zusammenhalt und Verantwortung füreinander tragen beschwört, ohne die Situation auch nur im Geringsten in Frage zu stellen. Immer wieder stellt sie auch in den Raum, dass Anne vom Jungendamt geholt wird, sollte etwas von ihrer Erkrankung nach außen dringen.
Dass die Kinder damit an Grenzen stoßen, die sie gar nicht kennen sollten, ist klar.
Doch es ergab keinen Sinn, ihr das zu sagen, meine Gefühle waren angesichts ihrer Krankheit und ihrer Einschränkungen klein und unwichtig.
Beide haben großen Halt aneinander, Anne sieht zu Kai auf, der wiederum kümmert sich um das Mädchen, das die Aufgaben einkaufen, kochen und waschen übernommen hat. Er begleitet die Mutter zum Arzt, übernimmt das Duschen und Toilettengänge, nimmt erste Jobs an, als das Geld knapp wird und schreibt nebenbei Abitur.
Der Roman beginnt 20 Jahre später. Anne, die Ich-Erzählerin, ist Pharmareferentin und gerade auf einer Tagung, als sie einen Anruf von ihrem Bruder erhält, zu dem sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bittet sie, ihn aus einer Entzugsklinik in Pellworm abzuholen und für eine Nacht zu beherbergen. Sie zögert, denn sie wütend auf ihn und das, was damals passiert ist ...
Er ist einmal alles für mich gewesen - alles, worauf ich mich verlassen und woran ich glauben konnte. Für mich hat er die ganze Welt zusammengehalten. Und dann ist er aus ihr herausgefallen und auf einem fremden Planeten gelandet, während ich zurückgeblieben bin."
Auf diesen zwei Zeitebenen erzählt Janine Adomeit ein eindringliches Porträt zweier Geschwister, einer eigentlich sehr liebevollen Familie und ihrem Zusammenhalt und dem tragischen Zerbrechen aller beteiligten Personen durch eine wirklich sehr komplexe Dynamik.
Das wird ganz ohne Drama, ohne Pathos erzählt, im Ton sogar recht nüchtern - aber auch sehr einfühlsam. Kapitel für Kapitel dröselt sich auf, was damals passiert ist und was aus Anne und Kai und ihrer Mutter geworden ist. Durch die Zeitwechsel ist das sehr spannend und ich bin nur so durch die Seiten gerauscht - auch wenn's mich sehr mitgenommen hat.