Besprechung vom 02.10.2024
Die Irrtümer der Revolutionäre
Unter Großstadtmüll, Schlagertexten und Verlautbarungen der Diktatur: Jose Dalisay erzählt von den Philippinen.
Die Philippinen sind ein Archipel von 7641 Inseln, von denen einige bis heute als Strafkolonien dienen, doch das ist nicht die einzige Parallele zu Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag", denn die Philippinen waren und sind kein Rechtsstaat: Menschenrechtsverletzungen sind hier an der Tagesordnung, seit der Nationaldichter Rizal, der in Heidelberg Medizin studiert und "Wilhelm Tell" übersetzt hatte, 1896 wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. An die Stelle der spanischen Kolonialmacht traten die USA, und im Zweiten Weltkrieg wurden die Philippinen besetzt von Japan, dessen Militärpolizei jedes Aufbegehren im Blut erstickte. 1968 verhängte der Diktator Ferdinand Marcos das Kriegsrecht gegen linke Studenten, die, inspiriert vom weltweiten Jugendprotest, seinem korrupten Regime den Kampf ansagten. Die First Lady Imelda Marcos hinterließ auf ihrer Flucht einen Palast voller Schuhe, der Schlagzeilen machte, und dass der neu gewählte Staatschef Fixer und Drogendealer ohne Prozess erschoss, spricht ebenso für sich wie die Tatsache, dass Manila zum Eldorado für Pädophile und Sextouristen wurde.
Diese umständliche Vorbemerkung ist nötig zum Verständnis eines autobiographischen Romans, der sich deutschen Lesern nicht ohne Weiteres erschließt, ein Biopic, wie es neuerdings heißt, das den Weg des Ich-Erzählers vom Studentenprotest zum bewaffneten Widerstand und vom Gefängnisaufenthalt über das Studium in den USA zum prominenten Schriftsteller schildert: "Ich war nach Hause gekommen und musste wieder los, (. . .) ich haute ab, während wir zu benommen waren, uns gegenseitig mit der schwer nachvollziehbaren Logik der Familienzugehörigkeit zu übertrumpfen - du gehörst hierher / ich habe jetzt eine größere Familie / sie lieben dich nicht so sehr wie wir / es geht nicht um Liebe, sondern um den Krieg des Volkes / wir gehören auch zum Volk."
Der Text hat die Form einer Endlosschleife oder eines in sich kreisenden inneren Monologs, und er könnte ähnlich in Berkeley, Berlin oder Liverpool, der Heimat der Beatles, spielen. Doch Manila ist eine aus den Nähten platzende Metropole der Dritten Welt, und der Klassenkampf zwischen Habenichtsen und Superreichen wurde hier so wenig gewaltlos ausgetragen wie der Generationenkonflikt langhaariger Teenager mit Anzugträgern, die ihre Eigenheime und Autos verteidigten. Er eskalierte zum Bürgerkrieg, dessen Akteure sich Sprüche des Vorsitzenden Mao und Slogans aus Chinas Kulturrevolution um die Ohren schlugen: "Natürlich glaubten wir an Marx, aber genauso selbstverständlich glaubten wir an Gott. Wir waren Filipinos und hatten beinahe unerschöpfliche Kapazitäten in Glaubensdingen."
Erschwerend tritt hinzu, dass die Philippinen ein ethnischer Schmelztiegel sind, hier stimmt das Klischee, in dem Nachfahren chinesischer Händler, malaiischer Seefahrer, indigener Fischer, japanischer Soldaten, Spanier und Amerikaner mehr oder weniger friedlich zusammenleben. Währenddessen baut Peking unbewohnte Atolle im Gelben Meer zu Militärbasen aus.
Was den Roman so lesenswert macht, ist seine Sprache, die dem Autor als Lebens- und Überlebensmittel dient, ein mäandernder Bewusstseinsstrom, der eine Masse Schlamm und Geröll transportiert: vom Großstadtmüll über Schlager und Werbetexte bis zu den Verlautbarungen der Diktatur. Und weiter zu den Irrtümern und Illusionen selbst ernannter Revolutionäre, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten. Ein Theater der Grausamkeit, verschärft und abgemildert durch allgegenwärtige Korruption, die Schlupflöcher öffnete in starren Hierarchien und das Los politischer Gefangener halbwegs erträglich machte. Jose Dalisay, der 1954 geborene Autor, zieht alle Register seiner Erzählkunst, einschließlich Humor und Ironie, um Glanz und Elend des Inselarchipels sinnlich erfahrbar und, dank Niko Fröbas Übersetzung, für Außenstehende nachvollziehbar zu machen. "Es gab Verhaftungen, Verrat, Aufgabe, Vergeltung - wenn ein Läufer stolperte, wenn (. . .) eine Gemeinschaft sich aufraffte, sich selbst zu schützen. (. . .) Sogar unter uns gab es viele, die nun zustimmten, dass die Stunde der Revolte vorbei sei und die erkämpfte Freiheit (. . .) kläglich daran gescheitert sei, Straßen zu bauen, die Kriminalität einzudämmen, die Ärmsten zu füttern und die Reichen glücklich zu machen." HANS CHRISTOPH BUCH
Jose Dalisay: "Killing
Time in a Warm Place".
Ein Roman aus den
Philippinen.
Aus dem Englischen von Niko Fröba. Transit Verlag, Berlin 2024. 200 S., geb.
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