Besprechung vom 13.05.2025
Der antiquarische Kanzler
Friedrich Merz ist Kanzler geworden, als sei er einem Antiquariat entstiegen. In vielen Büchern hat er vorgezeichnet, was zu tun ist. Jetzt muss es nur noch getan werden.
An Friedrich Merz ist einiges, was es noch nicht gab in der deutschen Politik nach 1949 und 1989. Nur Adenauer war älter, als er Kanzler wurde. Merz ist in einem Alter, in dem alle Kanzler, bis auf Adenauer, schon wieder abgetreten waren. Grund dafür ist, dass keiner dieser Kanzler so wie Merz eine "Auszeit" hinter sich hatte, den Wechsel in die Wirtschaft, als er in das Kanzleramt zog. Kein Kanzler musste sich die Rückkehr in die Politik und den Aufstieg in den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur in so kurzer Zeit so mühsam erkämpfen wie Merz. Selbst die Kanzlerwahl verlangte von ihm Steherqualitäten. Zwar mussten und konnten auch Ludwig Erhard, Helmut Kohl und Angela Merkel warten (Erhard besonders lange), bis ihre Zeit gekommen war. Merz hingegen wich erst aus, um dann umso hartnäckiger und unbeirrbarer zurückzukehren, mit einer Verve, dass er "unvermeidbar" war, wie Sara Sievert seine Rückkehr beschreibt.
Wenn man die vielen Bücher liest, die über Merz oder von ihm selbst geschrieben wurden, hat man den Eindruck, dass er nie wirklich hingeschmissen hatte, sondern im Spiel blieb oder jedenfalls die Sehnsucht danach systematisch wachhielt. So beschreibt es Volker Resing in seiner Biographie, die kürzlich erschien: "Das Thema seiner Rückkehr war kein Ereignis, sondern ein Evergreen." Anders ausgedrückt: Er hielt sich im Vergleich zu Merkel nicht nur 2002 für den Besseren, als Edmund Stoiber Kanzlerkandidat wurde, hauchdünn verlor, und Merz deshalb den Fraktionsvorsitz an Merkel abtreten musste; er hielt sich auch 2005 und später für den Besseren, als schließlich Merkel hauchdünn an Gerhard Schröder vorbeigezogen war und ihre erste große Koalition geschmiedet hatte. Beweisen konnte er es all die Jahre nicht. Aber schreiben.
Kein anderer Kanzler hat vor seiner Zeit als Regierungschef so viele Bücher geschrieben, in denen er aufschrieb, was jetzt zu tun sei (anders gesagt: was er besser machen würde). Merz gelang in seiner Zeit parteipolitischer Abstinenz vielleicht kein Bestseller wie Ludwig Erhard 1957 in seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister mit "Wohlstand für alle". Nur Helmut Schmidt veröffentlichte noch mehr Bücher - aber erst, nachdem er Kanzler gewesen war.
Die meisten der Merz-Manifeste erschienen unmittelbar vor und nach seinem Rückzug aus der Politik, in den Jahren 2002 bis 2010, und alle haben sie ein gemeinsames Thema, den drohenden oder tatsächlichen Abstieg Deutschlands und die Politik, die daran etwa ändern könnte, besser gesagt: den Politiker, der daran etwas ändern könnte. Merz präsentiert sich darin als Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitiker, der es anders machen würde. Aus der Rolle des Oppositionspolitikers kam der Autor Merz dabei nicht heraus - das war so 2002 noch unter der Regierung Schröder ("Mut zur Zukunft") und blieb auch 2010 so, als Merkel längst regierte und Merz zusammen mit Wolfgang Clement ein Buch publizierte, mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister, der wie Merz zur eigenen Partei, der SPD, auf Distanz gegangen und schließlich ausgetreten war ("Was jetzt zu tun ist").
Jeweils beherrschten diese Bücher dieselben Punkte, die jetzt auch den Koalitionsvertrag prägen (oder prägen sollten), der gerade abgeschlossen wurde: die Überlastung der Sozialsysteme, insbesondere der Rentenversicherung, die Notwendigkeit einer Steuerreform, Wachstumshindernisse für die Wirtschaft, die "Diktatur der Bürokratie". Manchmal lesen sich diese Bücher, als ob sie gestern geschrieben wären, als ob die Zeit stillgestanden hätte. Merz ist ein Kanzler des modernen Antiquariats. Es gibt allerdings gravierende Unterschiede zwischen den "frühen" und den "späten" Büchern: Vor zwanzig Jahren spielte die Arbeitslosigkeit eine ganz andere Rolle als heute, und auch die Klimapolitik hinterließ zunächst kaum Spuren im Krisenkosmos des an Merkel Gescheiterten. Zwar ist die Migrationspolitik, damals noch Ausländerpolitik genannt, schon 2002 ein Reizthema. Merz propagierte damals offensiv die "Leitkultur", die erst in seiner Zeit als Vorsitzender, also zwanzig Jahre später, ins Programm der CDU finden sollte.
Aber Einwanderung ist damals kaum als Brennpunkt bei Merz wahrzunehmen. Selbst 2020 ("Neue Zeit") stellt er Migration nicht in den Vordergrund, "Leitkultur" meidet er. Schon 2010 hatte sich Merz, stets ein Befürworter der Atomenergie und schon deshalb ein Kritiker Merkels, zusammen mit Clement für eine neue Energiepolitik ausgesprochen, aber erst jetzt widmet er sich ausführlich dem Klimaschutz. Überraschung: Merz lobt Fridays for Future als eine "Bereicherung unserer politischen Kultur".
Das ist nur eine von vielen Auffälligkeiten, die nicht nur so dahergeschrieben sind, sondern ganz offensichtlich das Bild von Merz korrigieren sollen, das in der Öffentlichkeit gerne gepflegt wird. Aufwendig stellt Merz kurz vor seinem Abschied aus dem Parlament ("Eigentlich wollte ich zum Ende meiner parlamentarischen Tätigkeit keine größere Publikation mehr verfassen") klar, wo er sich sieht und wo er gesehen werden will. Sein Buch über "Mehr Kapitalismus wagen" von 2008 ist eine Auseinandersetzung mit dem "Neoliberalismus", der seit den Tagen von Tony Blair und Gerhard Schröder einen schlechten Klang in Deutschland hat.
Merz schreibt nichts Neues - "neoliberal", wie er sich sieht, waren die Liberalen nach dem Krieg, die eben nicht Laisser-faire wollten, sondern einen starken Staat. Sie hatten nur das Pech, dass sich die Neoliberalen unserer Tage genauso nannten oder so genannt wurden, weil sie mit starkem anti-staatlichen Affekt für eine "Entfesselung" privater Initiative eintraten. Merz, der Ludwig Erhard sicher näher steht als Helmut Kohl, einen "Neoliberalen" zu nennen, ist richtig und falsch zugleich. Er hat keine Schwierigkeiten, auch im Wirtschaftsleben einen starken Staat zu fordern oder, wie man an der Schuldenpolitik sieht, von liberalen Prinzipien abzuweichen. Was er auf keinen Fall ist: ein "Erzkonservativer".
Für Merz ging es in diesem Buch von 2008 noch um etwas anderes, was für die jetzt beschlossene Koalition von CDU/CSU und SPD wichtig ist. Es ist eine Abrechnung mit dem Kurs der CDU und der SPD nach den Reformen der von Gerhard Schröder durchgesetzten "Agenda 2010". Die große Koalition von 2005 (und man kann ergänzen: auch die späteren) sei überhaupt nur deshalb zustande gekommen, schreibt er, weil die SPD und Schröder den Mut gehabt hätten, "die als richtig und notwendig anerkannten Reformen in der Sozialpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik um das Risiko der eigenen Abwahl durchzusetzen". Schuld daran, dass sich die große Koalition davon wieder abwandte, gibt Merz vor allem der CDU. Sie habe sich, weil das Wahlergebnis von 2005 nicht das erhoffte gewesen sei, ohne Not dazu verleiten lassen, die SPD "von links" zu überholen und Schröders Reformen zurückzudrehen (auch in der Arbeitsmarktpolitik). Die Lehre, die Merkel aus jener Wahl zog - bloß keine Zumutungen! -, konnte Merz nie nachvollziehen. Musste er auch nicht, wird Merkel denken, er musste ja nicht regieren. Merz aber wirft ihr vor, sie habe damit zu einem fatalen "Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik" beigetragen.
Auch ohne Banken- und Finanzmarktkrise, die damals, 2008, mit voller Wucht ausbrach und deshalb vieles infrage stellte, was Merz unter "Kapitalismus" versteht, lässt sich sagen: Merz führte jetzt, 2024, Wahlkampf, der gegen diesen Wendepunkt zum Negativen gerichtet war und auf eine Fortsetzung jener Agenda zielte. Er sagte natürlich nicht wie noch 2008, dass auch die CDU für die Fehlentwicklung verantwortlich war. Er muss nun zudem mit einer SPD regieren, in der damals, an der Seite Merkels, "alle Dämme brachen" und die in der Revision der Agenda-Reformen geradezu ihren Daseinszweck sah. Höhepunkt war das "Bürgergeld", das noch unter Andrea Nahles auf einem Parteitag beschlossen wurde und von dem sich die SPD nun wieder verabschieden muss.
Im Kampf um die "Mitte", den Schröder, wie Merz Anfang der 2000er Jahre als Fraktionsvorsitzender schmerzhaft erleben musste, recht erfolgreich führte, hat die CDU damit die Nase wieder vorn. Die SPD habe damals an einer "Marginalisierung der CDU" gearbeitet, wie Merz 2002 schreibt, habe ihr ein verstaubtes, konservatives Image angedichtet, sowohl innen- wie außenpolitisch. Merz ging mit dieser Herausforderung, anders als Merkel, offensiv um. Er ließ sich den Konservativismus nicht madig machen. Mit einem Buch "Was ist konservativ?" trumpfte er aber nicht auf - weil er sich ganz offenbar nicht darauf reduzieren lassen wollte. Zumal es in der Renten- oder Steuerpolitik bei ihm einen "konservativen" Ansatz nur insofern gibt, da er sich auf einen ordoliberalen Standpunkt stellt, der sich bewährt habe. Nur einmal, in seinem jüngsten Buch von 2020, sticht die Bemerkung hervor: Die CDU müsse "einen offenen, modernen Konservatismus" vertreten, der "Optimismus und Mut zur Zukunft" ausstrahle.
Kern dieses Vorwärts-Konservatismus müsse das Prinzip der Subsidiarität sein - alles keine sehr originellen Gedanken, die ganz offensichtlich nur vorgetragen werden, um in diesem Fall das Bild ganz bewusst zu bedienen, das von ihm gezeichnet wird. 2020 musste Merz erklären, warum er die Partei führen will, da erwarteten viele, dass er die Partei breiter aufstellen und den konservativen Flügel der Partei wiederbeleben würde. Auf einen "Konservativen" lässt sich Merz auch aus einem anderen Grund nicht reduzieren. Ihre Vertreter arbeiten sich innerhalb und außerhalb der Parteien meist an der AfD ab.
In dem eben zitierten Buch, geschrieben unter dem Eindruck der Corona-Pandemie und des Machtkampfs um den CDU-Vorsitz, erwähnt Merz die AfD kein einziges Mal, das Thema Einwanderung ist eines unter vielen. Den Rechtspopulismus behandelt er nach dem Prinzip: nicht einmal ignorieren. Bewusst? Merz gehörte zu den Ersten, die Merkel davor warnten, auf der rechten Seite eine Lücke zu lassen, in der sich eine neue Partei breitmachen könnte. Auf seine Äußerung von 2018, es sei möglich, die AfD zu halbieren, wird er heute nur ungern angesprochen. Ist das wirklich ein Zeichen einer strategischen Kurskorrektur, von der Umarmungs- zur "Vernichtungsstrategie", wie Jutta Falke-Ischinger und Daniel Goffart in ihrer Biographie schreiben? Es gab und gibt weder das eine noch das andere, wenn von einer Strategie überhaupt die Rede sein kann. Mehr zu erwarten ist in dieser Frage von der Biographie, die Mariam Lau in diesen Tagen veröffentlicht ("Merz - Auf der Suche nach der verlorenen Mitte").
Merz dürfte als den größten Unterschied zur AfD nicht nur die bürgerlichen Werte ins Feld führen, auf denen seine bislang ausschließlich innenpolitische Agenda baut, sondern vor allem die Europa- und Außenpolitik. In seinen Büchern von 2002, 2004 ("Nur wer sich ändert, wird bestehen"), 2008 und 2010 kommt diese Außen- und Europapolitik so gut wie nicht vor. Erst 2020 steht Europa auf dem Merz-Programm, auch wenn er sich noch immer nicht in die Weltpolitik begibt und ein Brennpunkt fehlt - Russland und die Ukraine. Alle Kanzler vor Merz fingen so einmal an, irgendwann verloren sie das Interesse daran, überließen das Feld dem Ehrgeiz von Ministern und Leuten wie Merz, die überzeugt sind, dass sie es besser machen würden. Wird es bei Merz anders sein?
Wird er sich schon zu Beginn seiner Amtszeit ganz der Außenpolitik verschreiben (müssen)? Oder ist es gar nicht anders? Ist Merz nach all den vielen Jahren, da er Kanzler im Geiste war, schon in der Spätphase seiner Kanzlerschaft angelangt? Das wäre schade, denn es hieße, dass seine Bücher umsonst geschrieben worden wären und vergeblich im Antiquariat ausgeharrt hätten. Denn Merz könnte nicht mehr zeigen, dass er es tatsächlich besser machen kann. JASPER VON ALTENBOCKUM
Sara Sievert: Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 256 S., 24,- Euro.
Jutta Falke-Ischinger/ Daniel Goffart: Friedrich Merz
Langen Müller Verlag, München 2024. 352 S., 25,- Euro.
Friedrich Merz: Neue Zeit. Neue Verantwortung. Demokratie und Soziale Markwirtschaft im 21. Jahrhundert.
Econ Verlag, Berlin 2020. 240 S., 18,99 Euro.
Friedrich Merz: Mut zur Zukunft. Wie Deutschland wieder an die Spitze kommt.
Goldmann Verlag, München 2002. 320 S., antiquarisch.
Friedrich Merz: Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft.
Piper Verlag, München 2008. 224 S., antiquarisch.
Wolfgang Clement/
Friedrich Merz: Was jetzt zu tun ist. Deutschland 2.0.
Herder Verlag, Freiburg 2011. 200 S.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Friedrich Merz" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.