"Das Alphabet ist ein machtvolles Instrument. Das Alphabet als Sammlung der kleinsten Teilchen unserer Sprache, aus denen Wörter und Sätze gebildet werden, aus denen sich Diskurse und Dispositive formen. ...
Das Alphabet ist eine Recherche ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Jede Person trägt ihr eigenes Alphabet der sexualisierten Gewalt. ... Es ist eine Einladung über das eigene Alphabet nachzudenken."
Das Alphabet der sexualisierten Gewalt von Laura Leupi ist ein außergewöhnliches und vielschichtiges Buch, das mehr als ein Alphabet bietet, auch wenn eines von A-Z vorhanden ist:
"A steht für Angst, die wir nicht haben sollten, uns aber anerzogen wird: Angst vor dem öffentlichen Raum, Angst vor Verletzungen, Angst vor Sex, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Fremden, Angst vor der Angst. Die Angst verweist uns zurück an den Herd und den MANN ans Gewehr."
V steht für verletzlich, weil alle Körper verletzlich sind und darin Widerstand und Schönheit liegt.
"Z steht für Zuhause, unser eigenes oder ein anderes. Dort, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen. Zuhause kann auch der Ort sein, wo wir uns begegnen und gemeinsam kämpfen. Ein Ort des Zuhörens. Ein Ort der Zuflucht und des Zorns. Ein Ort der Zukunft."
Gleichzeitig erzählt das Buch autofiktional eine persönliche Geschichte; der Versuch einer Aufarbeitung:
"Ich versuche, dem Stuhl und dem Bett zu erzählen, was in diesem Zimmer passiert ist, aber sie hören mir nicht zu.
Das Buch ist ungewöhnlich, mich hat es von Anfang an begeistert. Es ist unheimlich klug geschrieben und gibt einem jede Menge Stoff zum Nachdenken bzw. um Worte für Gewalterfahrungen zu finden. Und um Schwachstellen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt aufzuzeigen.
"Kaum etwas in unseren (westlichen) Gesellschaften ist so groß, so ultimativ und so abschließend wie sexualisierte Gewalt. Sie ist das "Unsagbare", das "Unaussprechliche". Obwohl wir sie überall riechen, schmecken und ertasten können. Sexualisierte Gewalt ist das gut hörbare "große Schweigen", das von Betroffenen regelmäßig unter Medienecho gebrochen wird."
"Das Schweigen wird meist mit großen Geschichten gebrochen, schlimmen Schicksalen, intimen Details - und nicht mit dem alltäglichen, dem was sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen ist."
"Das Schweigenbrechen ist der Fetisch des öffentlichen Diskurses über sexualisierte Gewalt. Das Schweigenbrechen wird eingefordert, angeordnet, ritualisiert.
Diese Einforderung ist eine heimtückische, denn längst nicht jedes Schweigebbrechen wird gehört und verstanden. Und längst sind es nicht mehr nur die Betroffenen, die zu Schweigenbrecher:innen werden sollen.
Wir kennen ihre Geschichten. Wir haben ihre Zahlen. Das Schweigen sollten diejenigen brechen, die das Schweigen zu verantworten haben. Das Schweigen sollten diejenigen brechen, die es sich im Schweigen gemütlich gemacht haben."
"Immer wieder kommen wir auf dasselbe THEMA. Unsere Geschichten haben dieselbe Struktur und sind Struktur, strukturieren Alltag, Öffentlichkeit, Sozialisierung, Beziehung, Beruf. Unsere Geschichten stecken im 2. oder 3. Akt fest oder enden in der Katastrophe. Ich kenne kaum Geschichten von Personen, die sich physisch gewährt haben, erst recht nicht erfolgreich, oder Geschichten von Wut, Rache und Gegengewalt. Dass MÄNNER stärker sind, ist ein Mythos. Gleichzeitig sind alle Geschichten, die ich kenne, Geschichten des Wiederaufstehens und Weiterlebens."
"Das Alphabet ist ein Versuch, der prekären Erinnerung ein Gefäß zu geben und eine selbstbestimmte Zukunft zu denken."
"Mit einem solchen Text in die Öffentlichkeit zu treten ist ein Kraftakt. Eine Zumutung. Ein Befreiungsschlag."
Dieses Buch ist außergewöhnlich, inhaltlich sowie sprachlich. Ich bewundere den Mut und das kreative Schaffen von Laura Leupi. Ein wichtiges und starkes Buch, das von mir eine ganz klare Leseempfehlung bekommt!