Besprechung vom 10.10.2020
Selbstbestimmung hängt an ökonomischer Durchsetzungskraft
Tiefliegende Strukturen im Blick: Linda Scott schreibt ein Plädoyer für die Beseitigung wirtschaftlicher Benachteiligungen von Frauen.
Von Friedemann Bieber
Erst 1958 erhielten Frauen in der Bundesrepublik das Recht, gegen den Willen ihrer Ehemänner ein Konto zu eröffnen, über Vermögen und Erbschaften zu verfügen und - "soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist" - einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Viele Staaten gestehen Frauen ein solches Recht auf ökonomische Eigenständigkeit bis heute nicht zu, und selbst dort, wo das Gesetz auf ihrer Seite ist, können Frauen Ansprüche mitunter kaum durchsetzen. Zudem bedingt die effektive rechtliche Gleichstellung noch keine ökonomische Parität: In Deutschland etwa erhielten Frauen 2019 im Schnitt eine 46 Prozent niedrigere Rente. Ein gleicher Zugang zu Einkommen und Kapital aber, so die These der Oxforder Wirtschaftswissenschaftlerin Linda Scott, sei die zentrale Voraussetzung für echte Gleichstellung - und damit für die Entwicklung einer sozialeren und nachhaltigeren Wirtschaftsweise.
Scotts Buch "Das weibliche Kapital" ist ein Plädoyer für die Beseitigung der strukturellen ökonomischen Benachteiligung der Frauen. In vierzehn Kapiteln beschreibt die emeritierte Professorin der Saïd Business School an der Universität Oxford Barrieren, die Frauen in unterschiedlichen Kontexten daran hindern, gleichwertig am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Dabei verwahrt sich Scott gegen das hartnäckige Narrativ, Frauen müssten sich nur durchbeißen, und lenkt den Blick auf tiefer liegende soziale, rechtliche und vor allem ökonomische Strukturen, die sie zurückhalten. Um diese Strukturen zu beschreiben, prägt sie den Begriff der "XX-Ökonomie", einer "spezifisch weiblichen Schattenwirtschaft", die in den ökonomischen Statistiken gar nicht auftaucht. Deren Überwindung durch eine Verwirklichung ökonomischer Gleichstellung würde Scott zufolge nicht nur Frauen nützen, sondern der gesamten Gesellschaft, da Frauen in der Regel nachhaltiger und gemeinschaftsorientierter handelten.
Scott beginnt mit einem Beispiel aus ihrer Forschungsarbeit in Ghana, wo sie 2008 ein Projekt zur kostenlosen Verteilung von Binden initiierte. Ihr Team wollte untersuchen, ob sich der massive Rückgang des Schulbesuchs älterer Mädchen durch fehlende Hygieneartikel erklären ließe. Anfangs, so schildert es Scott, schlug ihnen "Widerstand seitens der internationalen Hilfsorganisationen entgegen, weil niemand aus einem armen Dorf ihnen gegenüber das Thema Menstruation problematisiert hatte". Die Hilfsorganisationen hatten aber offenbar nur nie direkt mit den Frauen gesprochen, denn die erkannten den Wert der Binden sofort.
Es stellte sich heraus, dass es den jungen Frauen weniger um Scham oder Komfort ging als um die Möglichkeit, die einsetzende Menstruation zu verheimlichen. Gelang ihnen das nicht, setzten sie sich auf dem Schulweg einem hohen Risiko sexueller Gewalt aus. Zudem versuchten Väter oftmals, ihre Töchter möglichst bald nach dem Beginn der Menstruation zu verheiraten, und Verwandte entzogen Waisen die finanzielle Unterstützung. In einem solchen Kontext können Binden nur ein Teil der Lösung sein, das Beispiel verdeutlicht aber ein grundlegenderes Problem, das Scott immer wieder beschreibt: Die Interessen von Frauen werden ignoriert, nicht nur weil diese sozial marginalisiert sind, sondern weil sie nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, um sich am Markt durchzusetzen, etwa, indem sie Hygieneartikel kaufen.
Scotts Buch ist mit Verve geschrieben - und mit einer gehörigen Portion Ungeduld gegenüber den (meist männlichen) Entscheidungsträgern, die über die Anliegen von Frauen hinwegblicken. Dabei nimmt sie auch die Wirtschaftswissenschaften ins Visier. Für viele Ökonomen sei Diversität kein Thema, der Frauenmangel in ihrer Disziplin vielmehr das Ergebnis freier Entscheidungen einzelner Akteure innerhalb eines (Arbeits-)Markts. Scott führt zahlreiche strukturelle Gründe dafür an, warum die "Ökonomie weltweit das am stärksten von Männern dominierte Fach an den Universitäten" sei. Dieser Zustand stört sie nicht zuletzt, weil er den Blick verengt.
Scott hat keine Sorge, anzuecken. Für Relativisten, die eine Unterdrückung von Frauen in anderen Ländern unter Verweis auf kulturelle Eigenheiten tolerieren wollen, hat sie ebenso wenig Verständnis wie für Moralisten, die eine Verteilung von hygienischen Einmalprodukten aus ökologischen Gründen kritisieren oder klare Vorstellungen davon haben, wofür Menschen in armen Ländern ihr Geld ausgeben sollten. In dem unnachgiebigen Eintreten für die Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen und dem Blick für die ökonomischen Hemmnisse liegt die größte Stärke ihres Buchs.
Auf Handlungsansätze geht Scott erst im Epilog systematisch ein. Dass es keine allgemeine Lösung geben kann, zeigt schon ihre Analyse: Das Problem ist zu vielschichtig, es erfordert eine Berücksichtigung der jeweiligen lokalen Strukturen. Im Kern plädiert Scott für ein skandinavisches Modell staatlicher Kinderbetreuung, freier Bildung und transparenter Löhne, um Frauen freien und fairen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Zudem appelliert sie an die Macht der Konsumenten, gezielt von Frauen geführte Firmen zu unterstützen. Ihre originellste Idee ist die Kampagne fürs "80-Prozent-Weihnachten": Was würde passieren, fragt Scott, wenn sich Frauen, die im Westen den Großteil der Verbraucherausgaben tätigen, darauf verständigten, ihre Aufwendungen zu Weihnachten um zwanzig Prozent zu senken, um gegen den "Gender Pay Gap" zu protestieren - und so eine kleine Wirtschaftskrise auslösten?
Die Berichte über ihre eigene Forschung reichert Scott mit Exkursen zur historischen Entwicklung von Frauenrechten an. Doch nicht alle Kapitel sind gleichermaßen gut gelungen, und ihre Anordnung lässt mitunter ein schlüssiges Prinzip vermissen. Scott springt von ökonomischen Bedingungen armer Frauen in Bangladesch zu den Hürden weiblicher Führungskräfte im internationalen Finanzsektor, dazwischen gibt sie einen Abriss über den Kampf um Zugang zu höherer Bildung.
An einigen Stellen mangelt es dem Text an Gründlichkeit. Mitunter fehlen Quellenangaben, viele der Graphen sind nicht aussagekräftig beschriftet. Und nicht alle Argumente überzeugen. So kritisiert Scott den Stereotyp, Frauen studierten aufgrund einer geringeren Begabung vor allem die "einfachen Fächer" wie Geisteswissenschaften, indem sie ausführt, welche unabhängigen Gründe Frauen dafür haben könnten, gewisse Fächer nicht zu wählen - etwa die Sorge vor Diskriminierung oder Belästigung. Das ist ein valider Punkt, doch die Prämisse, qualitative Fächer seien einfach und quantitative Fächer schwierig, stellt Scott nicht in Frage. Stattdessen verweist sie darauf, dass heute dreimal mehr Frauen BWL studieren als Kunstgeschichte - und suggeriert damit, ob beabsichtigt oder nicht, dass dies die geistige Befähigung von Frauen belegt.
Vor allem aber irritiert, dass Scott kaum auf frühere Kritikerinnen einer patriarchalen Wirtschaft eingeht. Bereits 1969 beklagte etwa die Chemikerin und Aktivistin Margaret Benston in dem Aufsatz "The Political Economy of Women's Liberation", dass selbst Marx die Hälfte der Menschheit vergessen habe, die Frauen nämlich, deren unbezahlte Arbeit in Haushalt, Erziehung und Pflege das kapitalistische System am Laufen halte. Diese Arbeit, forderte Benston, müsse vergütet werden, nur so könnten Gerechtigkeit und Gleichstellung erreicht werden. Indem Scott kaum auf Vordenkerinnen verweist, lässt sie jenes tiefere historische Verständnis vermissen, das für eine grundlegende theoretische Abhandlung - auf die der Titel Anspruch erhebt - unabdingbar gewesen wäre.
Vielleicht lassen sich manche Schwächen mit Scotts Ungeduld erklären. Im Kern geht es ihr eben nicht um einen theoretischen Traktat, sondern sie formuliert einen Aufruf zum Handeln. Ihre Analysen dürften gleichwohl auch für jene erhellend sein, die sich beim Thema Gleichberechtigung gut informiert wähnen.
Linda Scott: "Das weibliche Kapital".
Aus dem Englischen von Stephanie Singh. Hanser Verlag, München 2020. 416 S., geb.
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