Besprechung vom 23.06.2021
Kind zweier Revolutionen
Ljuba Arnautovic erzählt im faktenreichen und poetischen Roman "Junischnee" die Geschichte ihrer Eltern
Das Leben von Nina und Karl Arnautovic, den Eltern der Autorin, war von politischer Willkür bestimmt. Sie lernten sich in einem sibirischen Straflager kennen, und als Karl die junge Frau das erste Mal sah - sie brachte den Gefangenen das Essen -, erschien sie ihm wie ein Engel. Die Verlobung mit Nina, einer sowjetischen Staatsbürgerin, rettete Karl, ohne sie wäre er nach dem Ende seiner zehnjährigen Haft nicht entlassen worden. Auf ruhige, genaue und poetische Weise erzählt Ljuba Arnautovic in "Junischnee", dem zweiten Band einer geplanten Trilogie, ihre exemplarische Familiengeschichte weiter - und dringt damit bis ins Herz jener zerrissenen Zeit vor.
Schon der Anfang des Romans, eine Schilderung der Stadt Kursk, zieht den Leser in Bann. Ober- und Unterstadt sind strikt getrennt, aus der dörflichen Unterstadt mit ihren schiefen Häuschen ohne Strom und Kanalisation stammt Ninas Familie. Sehr liebevoll schildert die Autorin diese Welt ihrer Mutter. Als Teenager hatte sie sich zwar später bei der geliebten Babuschka stolz als "Fremde aus dem Westen" präsentiert, an die Flussbiegung war sie allerdings allein gegangen, damit niemand ihre feuchten Augen sah. Der Geruch des Wassers in der Dämmerung wird sie ihr Leben lang begleiten.
Lange hatten diese Geschichten in ihr gearbeitet, erzählt die Autorin in einem Interview, ehe sie mit fast sechzig begann, sie aufzuschreiben. Der erste Band der Trilogie, "Im Verborgenen", erschien 2018, er erzählt von der Wiener Großmutter Eva, die eine stille Heldin war und während der Nazizeit in ihrer Wohnung jüdische Freunde versteckte. Als Jugendliche war sie Kommunistin und Mitglied des "Republikanischen Schutzbundes", der paramilitärischen Organisation der Sozialdemokraten Österreichs, gewesen. Zu Beginn des Romans "Junischnee" schickt sie ihre beiden Söhne in die Sowjetunion, sie selbst wird mehrfach verhaftet und gefoltert. Es wird mehr als zwanzig Jahre dauern, ehe sie zumindest ihren jüngeren Sohn Karl wiedersieht. Er kehrt 1956 nach Wien zurück, ein Mann mit hartem Blick, der das Lager überlebte, weil die Kriminellen ihn als einen der ihren akzeptiert hatten. Seinen beiden Töchtern erzählt er später oft makabre Anekdoten aus der Lagerzeit, bei denen seine Stimme kaum merklich zittert.
Die Verhörprotokolle, die Arnautovic zitiert, hat sie aus dem Russischen übersetzt. Als langjährige Mitarbeiterin des Dokumentationsarchivs für den österreichischen Widerstand kann sie Geheimdienstdokumente fachkundig einschätzen. Knapp und präzise schildert sie die politischen und historischen Zusammenhänge, und nebenbei erfährt man viel über den Alltag der sowjetischen Gesellschaft - über das Theken-Bestellsystem der Läden zum Beispiel, das vielen Straßenkindern zu überleben half.
Der geschmückte Sonderzug, mit dem die "Schutzbund-Kinder" auf die Krim fahren und später das luxuriöse Kinderheim No. 6 in Moskau wirken wie künstliche Blasen, die mit dem realen Leben im Land wenig zu tun haben. Als Hitler die Sowjetunion überfällt, wird das Heim geschlossen, die liberalen Erzieher werden verhaftet. Karl, damals ein Halbwüchsiger, läuft weg, wird Straßenkind und landet bald in einer Erziehungsanstalt. Von dort aus schickt man ihn als Lehrling in eine Fabrik - die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind schrecklich. 1943, gerade volljährig geworden, beschuldigt man ihn antisowjetischer Propaganda. Die Gerichtsverhandlung endet mit einem erpressten Geständnis, den zitierten Verhörprotokollen sind die Qualen des Jungen abzulesen, besonders in der engen "Box". Das Urteil lautet auf zehn Jahre Straflager. Dessen Insassen erzählen ihm später, dass die "Boxen" für prominente Gefangene maßgefertigt worden seien und er, der klein und schmächtig war, sicher in der von Jagoda gesessen habe, dem ehemaligen Chef des NKWD.
Die Eltern Nina und Karl stehen im Zentrum des Buches, und Arnautovic erzählt einfühlsam und dokumentarisch genau, wie sie die wurden, als die sie 1956 in Wien ankamen. Wie kunstvoll dieser karge Erzählstil angelegt ist, zeigt sich an der gelungenen Balance zwischen kühlen und emotionalen Passagen, die dann umso stärker wirken - Erinnerungen, Hoffnungen und Ängste der Personen entwickeln ein leuchtendes Eigenleben. Ninas Weg in die Geburtsklinik von Kursk ist solch eine einprägsame Szene: Sie quält sich mit ihren Wehen von der Unter- in die Oberstadt, am ehemaligen Schlachtfeld vorbei, auf dem sie 1943 ihren Vater suchte. In jenem Juni war alles anders, sogar der Samenflaum, der "Pappelschnee", fiel erst einen Monat später. Sie fand ihren Vater nicht unter den Hunderten von Toten, deren Gesichter sie noch immer verfolgen. In der Oberstadt wird sie mit Fahnen und Musik empfangen, man feiert den Jahrestag der Schlacht - für Nina eine Groteske.
Das Leben im Westen, um das sie in Kursk alle beneiden, fällt Nina und Karl schwer, und die wiedergefundene Familie macht es ihnen noch schwerer. Diese Kinder zweier Revolutionen, der Oktoberrevolution und des "Roten Wiens" von 1934, wollen von Verurteilung und Lagerzeit nichts hören. "Warum sprichst du schlecht über die Sowjets?" ist alles, was Karls Vater dazu sagt.
NICOLE HENNEBERG
Ljuba Arnautovic: "Junischnee". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2021. 192 S., geb.
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