Besprechung vom 28.07.2022
Was bitte schert uns Chisinau
Im Laufe von mehr als zehn Jahren hat die Fotografin Andrea Diefenbach immer wieder Dörfer der Republik Moldau besucht. Nun ist ihr wunderbarer Bildband "Realitatea" erschienen.
Von Freddy Langer
Es war zehn nach zehn, als Andrea Diefenbach eines Festes wegen in Cirpesti die Schule besuchte. So zumindest zeigt es die Wanduhr auf ihrer Fotografie. Neben der Uhr steht eine Standarte mit der Fahne der Republik Moldau. Und unter der Uhr sitzen zwei Frauen hinter einem Empfangstisch auf Klappstühlen, die aussehen wie aus einem Kinosaal geschraubt. Weil sich neben den beiden Frauen eine Flucht leerer Räume öffnet, wirkt es, als wollten sie gleich nach einer Eintrittskarte fragen oder gar nach dem Pass. Aber so sei es nicht gewesen, sagt Andrea Diefenbach. Die beiden hätten dort gesessen, weil eben dort die Stühle standen. Was nichts daran ändert, dass sie durch ihre Haltung und den ernsten, ein wenig erschöpft wirkenden Blick den Eindruck erwecken, sie behüteten etwas. Vielleicht schon immer. Womöglich für immer. Und dann denkt man unwillkürlich an Kafka und das Gesetz und denkt auch, dass es gar nicht zehn nach zehn gewesen sein muss, sondern die Uhr stehen geblieben sein könnte, so wie man in der Republik Moldau immer wieder glaubt, die Zeit sei dort überhaupt stehen geblieben.
Zehn Mal hat Andrea Diefenbach im Laufe der vergangenen vierzehn Jahre das Land besucht. Für eine Reportage zunächst, in der sie über Dörfer berichtete, in denen es nur Großeltern und deren Enkel gab, weil die mittlere Generation nach Italien gegangen war, um dort Geld zu verdienen. Dann verliebte sie sich in das Land und seine Menschen und fuhr in den Sommern jeweils für ein, zwei Wochen durch die Provinz. Einfach nur auf der Suche nach Bildern. In der Zeit ist viel passiert. Die Kommunisten wurden abgesetzt. Das Volk hoffte auf eine proeuropäische Politik. Dann übernahmen Oligarchen das Ruder. Irgendwann schloss man ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union. Der Premierminister wurde verhaftet. In der Regierung verschwanden Milliardenbeträge. Und mancher Politiker fand sich auf internationalen Fahndungslisten wieder. Ständig kam es zu Neuwahlen. Und weil es immer leichter wurde, einen rumänischen Pass zu erhalten, wurde es immer mehr Bewohnern möglich, sich im Schengenraum frei zu bewegen. So gingen noch mehr Menschen fort, um im Ausland zu arbeiten und Geld in die Dörfer zu schicken.
Man sieht es den kleinen Siedlungen nicht unbedingt an, es sei denn, jemand stellt sich eine kleine Burg als späteren Ruhesitz mitten ins Maisfeld, jeden Sommer um ein paar Ziegelreihen in die Höhe gemauert. Aber eine Garantie für die Rückkehr ist nicht einmal das. Und so ist das Land, das einmal als der Obst- und Gemüsegarten der Sowjetunion galt, nun sein eigener Garten, den die Menschen mit einfachstem Gerät bewirtschaften und dessen Erträge sie mit Eselskarren abtransportieren.
Ja, es gibt Smartphones, Internet und neue Autos. Und bei ihren Reisen mit dem Mietwagen konnte sich Andrea Diefenbach auf Google Maps verlassen. Aber im Alltag der Dörfer spielt all das keine Rolle. So wie man sich dort auch nicht länger darum schert, was in der Hauptstadt Chisinau passiert oder entschieden wird. Stattdessen hat man sich mit einer gehörigen Portion Pragmatismus im Provisorischen eingerichtet, so gut es eben geht. Da mag sich hinter manchem Anschein von Anmut die blanke Armut verbergen. Und die auffällige Aufgeräumtheit und Sauberkeit der Orte und Straßen, Höfe und sozialistisch geprägten Hallen könnte auch einfach mit einem Mangel an Müll zu tun haben. Aber die leuchtenden Farben der Fassaden, der Wandteppiche in den Schlafzimmern und der Plastikblumen als Zierde künden fraglos von einem Schönheitsempfinden, auch wenn der Geschmack in die Jahre gekommen ist. Und dann fühlt man sich an früher erinnert, an eine Welt der Kindheit und nicht zuletzt der Kinderbücher, und dann denkt man, dass es vielleicht genau das ist, was Andrea Diefenbach sucht: Bilder einer Phantom-Erinnerung.
"Realitatea" von Andrea Diefenbach. Hartmann Books, Stuttgart 2022. 164 Seiten, 64 Farbfotografien. Gebunden
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