Besprechung vom 06.06.2024
Überlebenskunst mit Apfelstrudel
Ein origineller Band versammelt in 18 Episoden Biographien deutschsprachiger Frauen, die sich freiwillig, fluchtbedingt, mit Neugier, Weltoffenheit, missionarischem Eifer oder auch kolonialen Vorurteilen im Gepäck in das Reich der Mitte begaben. Dabei wurden sie oft unvermittelt Teil des Weltgetriebes, Spielball ideologischer Kämpfe, Zeitzeuginnen von Aufständen, Kampagnen und Revolutionen, Bürger- und Weltkriegen. Die Porträts beginnen chronologisch mit der Wiener Reisepionierin Ida Pfeiffer, die in "Eine Frauenfahrt um die Welt" ihre teils als Mann verkleideten Abenteuer, ihr Entzücken über Kunsthandwerk und Erschrecken über Lotusfüße schilderte. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts waren weibliche Chinareisende aber meist "mitgebrachte" Ehefrauen etwa von Missionaren oder in der deutschen Kolonialstadt Tsingtau tätigen Männern. Die Diplomatengattin Elisabeth von Heyking tadelte im Roman "Briefe, die ihn nie erreichten" den Wettlauf der Großmächte als "Taumel des Übermenschtums". So ist Missions- und Kolonisationsgeschichte aus weiblicher Sicht auch ein Perspektivwechsel. Es folgten frühe Akademikerinnen wie die Kunsthistorikerin Eleanor von Erdberg, die über die "Zweiteilung des Lebensraumes" der abgeschlossenen Hofhäuser nachdachte. Das Buch benennt Zäsuren wie Hitlers Machtergreifung 1933, in deren Folge Schanghai für viele Juden zum letzten offenen Hafen geriet (als typische Exilsituation wird die Überlebenskunst der Apfelstrudelbäckerin Franziska Tausig evoziert), 1937 als Ausbruch des Kriegs mit Japan oder die Ausrufung der Volksrepublik 1949. Es rekonstruiert den fatalen Elan der Mao-Zeit und Frauenreisen unter einem roten Leitstern wie die der Journalistin Ruth Weiss als teilnehmende Beobachterin der "antifaschistischen Maschinerie". Eine empathische, ermächtigende und Fernweh nach Fernost weckende Studie. STEFFEN GNAM
Martina Bölck und Hilke Veth: "»Ausgerechnet zu den Chinesen ...« Deutschsprachige Abenteurerinnen in China". Aviva Verlag, Berlin 2023. 336 Seiten
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