Sister Europe ist der sensationell gelungene Berlin-Roman einer seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland lebenden Amerikanerin, die sich hier besser auskennt als die meisten Berliner. Ein geistreiches, ein großes Lesevergnügen. *Platz 1 auf der SWR-Bestenliste*
Berlin im Vorfrühling. Eine Zufallsgemeinschaft ganz unterschiedlicher Menschen - ein Kunstkritiker und seine halbwüchsige trans Tochter, ein arabischer Prinz, ein alternder Lebemann mit seinem deutlich jüngeren Internet-Date und eine hinreißende Grande Dame - wandert durch die Stadt, von einem Galadiner im verblüht noblen Hotel Interconti quer durch den nächtlichen Tiergarten, stets verfolgt von einem Kripomann, der Verbotenes wittert. En passant entspinnt sich ein Gespräch voller Witz, Intelligenz, eingebettet in die Topografie und Geschichte der deutschen Hauptstadt, und durch den Plauderton hindurch dringen leise die großen Fragen: nach der Einsamkeit des Menschen, nach der Möglichkeit, sie zu durchbrechen, nach dem eigenen Platz auf dieser Welt. Am Ende finden sich die, die zusammenpassen, und die es nicht tun, finden sich auch.
«Der Roman einer Autorin mit ganz und gar unverwechselbarer, einfühlsamer Stimme. Nach der Lektüre möchte man gleich weiterlesen.» The Washington Post
Besprechung vom 31.07.2025
Wie kann man anders leben und mit wem?
Die Romane der Amerikanerinnen Nell Zink und Rachel Kushner blicken unterschiedlich auf Europa
Gute Literatur zeichnet sich durch vieles aus. Bei "Sister Europe" ist schon die Anlage originell. Der Roman erzählt von einer einzigen Berliner Februarnacht und zeichnet dabei nicht nur das fröstelnde Porträt der Hauptstadt und eines verlotterten Kulturbetriebs. Das Nocturne weitet sich zum Panorama deutscher Befindlichkeiten, das viel über uns preisgibt, ohne dies erst umständlich ausmalen zu müssen. "Sister Europe" (erschienen im Rowohlt Verlag in der Übersetzung von Tobias Schnettler) ist ein Winternacht-Albtraum, der so lustig, pointiert und durchdringend ganze Weltbilder in Unordnung bringt, dass Berliner Kritiker im "Literarischen Quartett" jüngst in Schnappatmung gerieten. Das soll gute Literatur sein?, jaulten sie.
Es ist nicht nur gute, es ist fabelhafte Literatur. Man könnte sogar sagen, dass dies der Berlin-Roman ist, der über Jahre, nein Jahrzehnte hinweg herbeigesehnt wurde, ehe das Verlangen irgendwann unerfüllt verblasste. Ganz sicher hat hier der Blick von außen dazu beigetragen, dass diese nächtliche Fiktion Berlin und damit uns alle so abgründig-komisch entlarvt. Denn die Schriftstellerin Nell Zink lebt zwar seit 25 Jahren in Deutschland und seit 2013 im brandenburgischen Bad Belzig, doch sie ist gebürtige Amerikanerin. 1964 kam sie in Kalifornien zur Welt, wuchs in Virginia auf, und ihr Talent wurde früh von Jonathan Franzen gefördert, der sie entdeckte, nachdem Nell Zink, selbst Birdwatcherin, auf einen seiner ornithologischen Artikel im "New Yorker" mit einer Gegendarstellung reagierte.
Nell Zink hat den spannungsreichen Vorteil, von außen und zugleich von innen auf Deutschland zu blicken und also vieles, was hier womöglich als selbstverständlich gilt, neu zu hinterfragen und entsprechend aufzuspießen. Ihr Roman ist wie ein Theaterstück angelegt. Der frühe Abend beginnt mit den Vorbereitungen zu einer literarischen Preisverleihung in einem heruntergekommenen Berliner Luxushotel und endet im Morgengrauen am Würstchenstand. Doch statt einer Figur zu folgen, webt Zink aus den vielen Stimmen ihres Ensembles einen polyphonen Chor. Da gibt es Demian, den zynischen Architekturkritiker, und Nicole, seine fünfzehnjährige Trans-Tochter, die mit ihrer Sexualität hadert. Da sind ein arabischer Prinz mit Schweizer Pass, eine Deutsche mit NS-Erbe, ein Pudel, eine politische Aktivistin und ein Sponti-Verleger.
Sie alle treffen anlässlich der Ehrung eines Dichters aufeinander, dessen fragwürdige Textstellen geflissentlich übersehen werden, da es im Anschluss an die durchlittene Preisverleihung zum Dinner ins Sterne-Restaurant geht - allerdings ohne Alkohol, aus Rücksicht auf die muslimischen Geldgeber. Während der folgenden Stunden kommt es zu immer neuen Konstellationen und Irritationen, die Zink widersprüchlich und witzig überzeichnet.
Damit kann es Rachel Kushner in ihrem jüngst ebenfalls auf Deutsch veröffentlichten Roman nicht aufnehmen. Auch sie ist Amerikanerin und hat sich einem europäischen Erzählstoff zugewandt. "See der Schöpfung" (ebenfalls erschienen bei Rowohlt, übersetzt von Bettina Abarbanell) versteht sich als satirischer Spionageroman. Im Zentrum steht die ehemalige FBI-Agentin Sadie Smith, die in Südfrankreich eine anarchoökologische Kommune infiltriert. Die Frau, die einst für den Überwachungsapparat arbeitete, ist zynisch, entfremdet und eine Papiertigerin. Ihre Aufgabe besteht nämlich einzig darin, als heimliche Zeugin eine Gruppe ehemaliger Pariser Bürgerkinder zu porträtieren, die sich von der westlichen Welt abgewandt haben, um als "bien-pensants" das Wohl der Welt herbeizuführen - dabei schrecken sie allerdings auch vor Mord nicht zurück. Die Dualität ist wie am Reißbrett entworfen. Bruno, der Anführer der "Moulinarden", der in einer Höhle lebt und seine Weisheiten bei den Neandertalern findet, wird zum Buchhalter der Gegensätze Staat und Widerstand, Kontrolle und Hingabe sowie Rationalität und Sehnsucht.
Während Kushner von innerer Wandlung und politischem Aktivismus durch die Perspektive einer Figur erzählt, gestaltet Zink das Tableau eines ganzen Milieus, dem es um alles Mögliche geht, nicht aber um Entwicklung oder gar Veränderung. Daher ist in "Sister Europe" auch kaum etwas am Morgen danach anders als am Abend zuvor. Zugleich haben die Charaktere in dieser einen Nacht die verschiedensten Terrains betreten. Kushner erzählt klassisch linear mit eingebauten Rückblenden, Landschaftsbeschreibungen und essayistischen Passagen, in denen Sujets wie Umweltzerstörung, Überwachung und kapitalistische Erschöpfung verhandelt werden. Auf Dauer erschöpft sich das.
Zink hingegen erzählt dialogisch, szenisch, unterhaltsam, ohne je platt zu werden. Ihre Kapitel sind kurz, wechseln schnell und sind von Ironie und Satire durchzogen. Der Text lebt von der Spannung zwischen Figuren und Milieus, nicht von einer Entwicklung. In Kushners abgeschiedener Gesellschaft Südfrankreichs, die sich der Zivilisation entzieht, um so etwas wie einen spirituell-politischen Urzustand zu erreichen, wird Europa zu einem Archiv alter Möglichkeiten.
Nell Zinks Berlin ist das Gegenteil: urban, dekadent, übercodiert. "Sister Europe" zeichnet ein Europa der Preisverleihungen, Milieublasen, Wokeness-Diskurse und migrantischen Identitäten und zieht es durch den Kakao, ohne herablassend zu werden. Wir alle finden uns wieder in dieser Nacht, die zur Projektionsfläche nicht nur amerikanischer Selbstverortung wird.
Wenn Kushner die Frage aufwirft: Ist ein anderes Leben möglich? und dafür die Figur von Bruno als mythischen Gegenpol zur zerstörerischen Rationalität etabliert, eines Propheten ohne Stimme, dann fragt Nell Zink: Wie redet man heute, ohne sich zu verrennen? Ihre Figuren sprechen viel, sehr viel, unentwegt hinterfragen sie sich selbst und kokettieren mit den Diskursen. Doch Zinks Kritik ist nie frontal gesetzt, sondern ironisch unterspült.
Die Figuren beider Autorinnen sind auf der Suche nach dem vermeintlich echten Leben in einer medial und ideologisch überfrachteten Zeit. Selbst die Körper sind davon betroffen, der bei Kushner in Gestalt von Bruno zum archaischen Instrument wird. Bei Zink ist der Körper - wie Berlin - eine einzige Baustelle, der stets neu geformt und durchlässig gemacht wird. Die Frage, wie man anders leben kann und mit wem, verbindet die Werke. Was sie unterscheidet, ist der Ton: Bei Kushner geht es um Veränderung durch Erfahrung, Zink bezweifelt was. Und während "See der Schöpfung" ein Übermaß an Handlung, Ortswechseln und Dramatik bereithält, ist "Sister Europe" ein Roman praktisch ohne Handlung - und doch passiert so viel in dieser einen Nacht. SANDRA KEGEL
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