Als Helene ihre Eltern kurz vor Weihnachten besucht, wirken die Räume des vertrauten Hauses seltsam hohl, als ließen sie sich trotz aller Bemühungen nicht mit Leben füllen. Der Anlass für ihren Besuch ist die Scheidung der Eltern. Irritiert beobachtet die Tochter jede ihrer Regungen, seziert sie voller Sprachwitz und zerlegt sie in ihre Einzelteile, die sich zu einem Familienbild bürgerlicher Prägung zusammensetzen: Thomas, der Vater, ist Arzt, aber weil er keine Menschenkörper mag, berät er lieber ein Pharma-Unternehmen. Die Mutter Irene hat Lehramt studiert, um nach der Geburt der einzigen Tochter doch Haus und Herd zu ihrem Arbeitsfeld zu machen. Und Helene selbst ist erfolgreiche Künstlerin mit Einzelausstellungen in London und Kopenhagen, einer Assistentin und einem Galeristen. Jetzt soll sie dabei helfen, den Besitzstand genauso wie den emotionalen Ballast der vierzig Ehejahre zu sortieren. Doch dann stürzt die Mutter die Treppe hinunter, bricht sich die Hüfte und plötzlich taucht auch die verschwunden geglaubte Kindheitsfreundin Molly wieder auf.
Humorvoll und in starken Bildern erzählt Hohle Räume von der Familie nicht mehr als einem Ort psychologischer Abgründe, sondern als kleinstmöglicher sozialer Einheit, in der die Aufstiegsgeschichte der Babyboomer genauso zu erkennen ist wie der Klassenumstieg ihrer Kinder - und wo Sofas, Töpfe und Fensterläden nicht bloß Alltagsgegenstände sind, sondern subtil über Werte, Überzeugungen und Sicherheiten Auskunft geben.
Besprechung vom 25.02.2025
Kunstprojekt Familienheim
Jedes Idyll wird irgendwann brüchig: Nora Schramms maliziöses Romandebüt "Hohle Räume"
Es ist die zum Alkohol neigende Nachbarin, die die entscheidenden Sätze sagt: "Bei euch drüben war's immer eine heile Welt. Das hat man durch die Wand bis zu uns gemerkt. Und du warst trotzdem das traurigste Mädchen, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Irgendwas hat nicht gestimmt, irgendwas war faul . . ." Fair is foul - nach dieser bewährten Devise dekonstruiert Nora Schramm in ihrem Debütroman ein Eigenheimidyll im fiktiven Stuttgarter Vorort Findelheim. Das Haus hat Schäden und Risse, deren Mehrdeutigkeit ein Immobiliengutachter nicht feststellen würde. Dafür bedarf es einer Erzählerin.
Die Eltern wollen sich, natürlich im besten Einvernehmen, scheiden lassen und rufen zur Hilfestellung die fünfunddreißigjährige Tochter Helene herbei, die sich als Künstlerin in Berlin einen Namen gemacht hat. Schnell merkt sie, dass das Einvernehmen eben doch nicht so gut ist und sich ihre Mutter Irene ziemlich verlassen im großen Haus fühlt, seit der Noch-Ehemann nur noch sporadisch vorbeikommt. Als Ich-Erzählerin des Romans kann sich Helene nun ergiebig abarbeiten an ihrer Findelheimer Herkunftswelt. Es gilt, die Gegenstände und Erinnerungen aus vier Jahrzehnten zu inventarisieren. Alle Hohlräume einer bürgerlichen Familie werden ausgeleuchtet. Das ist kein neues Erzählmuster. Nora Schramm wurde 1993 geboren, aber ihr Roman hätte auch gut in die Siebzigerjahre gepasst. Anders gesagt: Wir haben es mit zeitloser Literatur zu tun. Schließlich hat jeder Mensch Eltern, und früher oder später wird noch jedes familiäre Idyll brüchig.
Der Vater ist Arzt, arbeitet aber seit Langem als Pharmaberater, weil "die Körper fremder Leute gar nicht seins sind, wie er sagt". Offenbar war auch die Familie nicht so ganz "seins". Inzwischen hat er ein neues Gleichgewicht gefunden - mit einer Frau namens Svenja, was deutlich jünger klingt als Irene. Ein gewisses feministisches Grundrumoren über Männer, die sich aus der Verantwortung stehlen, durchzieht den Roman. Allerdings wird auch die Mutter nicht verschont vom maliziösen Blick der Erzählerin. Sie erscheint als groteske Leidensfigur, die eine Meisterschaft darin entwickelt hat, Lebensprobleme zu verdrängen und andere Menschen zu Objekten ihres Ehrgeizes zu machen. So hat sie über Jahre ein anderes Mädchen "aus schwierigen Verhältnissen" wie eine Adoptivtochter im Haus aufgenommen. Molly hat allerdings die Flucht ergriffen, als sie nicht mehr das wandelnde Förderprojekt eines sozial bewussten Ehepaars sein wollte.
Nach der Scheidung gedenkt die Mutter nach Berlin zu ziehen, was bei Helene Beklemmungen auslöst. Außerdem projiziert Irene ihre sexuellen Sehnsüchte auf die Tochter, weshalb Helene Männer und Affären erfindet: "Die Mutter ist sonst nicht zufriedenzustellen. Und weil sie einen verbindlichen Mann sofort kennenlernen müsste, denke ich mir ausschließlich unverbindliche Männer aus. Die Mutter denkt, ich sei ein Vamp, was Beweis genug ist, dass auch sie ein Vamp ist." Ein trockener, bisweilen an Elfriede Jelinek erinnernder Sarkasmus durchzieht den Roman, in der Darstellung von Geschlechterverhältnissen, Familienbanden, ihre Freiheit suchenden Männern und ihre Unfreiheit zelebrierenden Frauen, etwa wenn es über die Mutter heißt: "Aber das Seufzen konnte sie sich nicht verkneifen, und das Telefonieren mit der Freundin Christiane, die so einen ähnlichen Mann hat und auch zum Psychologisieren neigt, weil Psychologisieren etwas ist, das man so wunderbar nebenher machen kann und von zuhause aus."
Schleichend bewegt sich der Roman vom komisch Überzeichneten ins Surreale. Es gibt merkwürdige Begegnungen mit Helenes Findelheimer Schulfreunden, die ihre eigenen Lebensläufe ins rechte Licht rücken. Und dann liegt die Mutter nach einem Sturz von der Treppe plötzlich mit gebrochener Hüfte im Wohnzimmer und lässt sich von Helene Kräutertee und Vitamintabletten gegen die Schmerzen geben - ein Bild für ihr Beschönigen unbekömmlicher Realitäten. Helene ruft deshalb keinen Notarzt, und auch der Vater erklärt sich für unzuständig. Als die Mutter endlich doch in die Klinik gebracht wird, beginnt Helene, aus dem Elternhaus, das ihr nun ganz ausgeliefert ist, mit zehn Tonnen Sand eine Kunstinstallation zu machen. Ein Verdacht stellt sich ein: War schon das heile Familienleben all die Jahre eine Form von Konzeptkunst?
Nora Schramm versteht sich darauf, komplizierte Gefühle in kühlen, pointierten Formulierungen einzufangen, auch wenn sich die Detailfreude etwas lähmend auf den Fortgang der Handlung auswirkt. Der Roman lässt sich zudem als Porträt eines Wohlstandsmilieus lesen, das durch den Niedergang der deutschen Autoindustrie gefährdet ist, denn "in Findelheim wohnen die ausgezeichneten Daimler-Mitarbeiter". Auf jeden Fall ist "Hohle Räume" eine Talentprobe, die kürzlich zu Recht mit dem Mara-Cassens-Preis gewürdigt wurde, der höchstdotierten Auszeichnung für ein deutschsprachiges Romandebüt. Man ist gespannt, wie es weitergeht mit der Erzählerin Nora Schramm. WOLFGANG SCHNEIDER
Nora Schramm: "Hohle Räume". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024.
240 S., geb.
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