Wie authentisch kann eine privilegierte Perspektive sein, wenn sie für universell gehalten wird?
"Deine Freunde würden mich wohl als nett bezeichnen. Aber weißt du was?
Ich ertrage deine Freunde nicht.
Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Diebin. [...] Ich bin hochgradig manipulativ." (S. 13)
Was, wenn du keine Angst kennst? Kein Mitgefühl, keine Reue nur innere Leere. In Soziopathin erzählt Patric Gagne, wie sie genau damit lebt und was das über uns alle verrät. Keine Gefühle, aber ein scharfer Blick auf eine Welt, die Empathie voraussetzt.
"Meine Apathie war wie ein Drache, den man regelmäßig füttern musste. Wenn ich ihn ignorierte, würde er mich auffressen." (S. 172)
Gagne reflektiert nicht nur über ihre eigene Apathie, sondern sucht aktiv nach Erklärungen: Denn viele Forscher sehen in diesem Mangel an Emotionen den Ursprung ihres aggressiven und zerstörerischen Verhaltens. Das unterbewusste Verlangen, endlich etwas zu fühlen, zwingt Soziopathen dazu, ihre Leere in gewalttätige Taten umzusetzen und sich so auszuleben.
"Psychopathen und Soziopathen sitzen im selben Boot, weil sie kontinuierlich nach etwas Ausschau halten, mit dem sie Nervenbahnen verknüpfen können. Um zu fühlen. Deshalb verhalten sie sich so destruktiv, deshalb sind sie so gefährlich." (S. 153-154)
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Zu Beginn sog ich jede Seite auf getrieben von meiner Psychologie-Passion, sprang ich neugierig von Passage zu Passage. Doch etwa ab der Hälfte kippte meine Faszination in Ermüdung und aus Studieren wurde ein Überfliegen: 432 Seiten Selbstinszenierung, getragen von einem Ego, das offenbar ebenso unbegrenzt ist wie die Ressourcen der Autorin.
Reich, weiß, Tochter eines erfolgreichen Musikmanagers ihr upper class Küstenmilieu ist weniger Lebensrealität als glossy Kulisse. Aufgewachsen in einem wohlhabenden Viertel von Los Angeles (Coldwater Canyon), mit Blick auf die Hollywood Hills, Zugang zu exklusiven Hollywood-Kreisen, Partys in der Playboy Mansion.
Wer so lebt, hat den Luxus, sich jahrelang mit der eigenen Diagnose zu beschäftigen und ein Buch darüber zu schreiben, das am Ende mehr über das eigene Selbstbild erzählt als über die Störung selbst. Es geht weniger darum, wie Soziopathie wirklich erlebt wird, als darum, wie Patric Gagne gesehen werden möchte: als faszinierender Ausnahmefall, als Missverstandene mit Tiefgang, als Rätsel mit Glamourfaktor.
Natürlich ist dieses Privileg nicht ihre Schuld. Aber dass es kaum je reflektiert wird, hinterlässt einen schalen Beigeschmack zumal sich vieles im Buch liest, als würde sie fast genüsslich aufzählen, wie oft sie mit fragwürdigem Verhalten (und kleineren Verbrechen) davonkommt.
Was anfangs intim wirkt, entpuppt sich zunehmend als Monolog mit Publikumspflicht. Jeder Dialog, jede Erinnerung scheint millimetergenau inszeniert, um sie als einsame Aufklärerin im Kreis von Ahnungslosen zu zeigen. Nach einigen Kapiteln fragt man sich unweigerlich, ob sie je ein Gespräch geführt hat, das nicht um ihre Diagnose kreiste.
Patric Gagne erzählt und erzählt, loopt um immer gleiche Anekdoten, als wolle sie weniger vermitteln, wie es ist, mit einer soziopathischen Wahrnehmung zu leben, als mich krampfhaft davon überzeugen, dass sie tatsächlich eine Soziopathin ist.
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"Massenmedien brandmarkten Soziopathen mit nur wenigen Ausnahmen als verabscheuenswerte Bösewichte." (S. 160)
"Tief in den Forschungsregalen fand ich diverse Studien, die darauf hinwiesen, dass Soziopathen nicht wirklich Monster seien, die nur auf Zerstörung aus waren. Sondern dass sie Menschen seien, deren angeborenes Temperament es ihnen erschwerte, erlernte soziale Gefühle wie Empathie und Reue zu internalisieren, es aber nicht unmöglich machte." (S. 160)
Patric Gagne reißt in dieser Passage den Mythos vom bösen Soziopathen ein und zeigt, wie falsch das Bild ist, das Medien zeichnen. Statt Monster mit leerem Blick begegnen wir Menschen, die mit einem schweren Start ins emotionale Leben kämpfen. Die Diagnose wird nicht zum Urteil, sondern zur Einladung: hinzuschauen, zu verstehen und Vorurteile zu verlernen.
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Fazit:
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Autobiografie mehr Echtheit, Selbstreflexion und Mut zur Verletzlichkeit zeigt statt einer Dauerperformance zwischen Brillanz, Egozentrik und Selbstverliebtheit.
Am Ende bleibt Soziopathin ein Selbstporträt in Dauerschleife.
Was als Hilfe für andere gedacht war, bleibt für mich persönlich seltsam leer.
Lehrreich ist hier höchstens, wie eng eine privilegierte Perspektive sein kann, wenn sie für universell gehalten wird.