Besprechung vom 08.08.2024
Ein Mustang der Zunge
Ralph Dutlis wilder Gedichtband "Alba"
Kein Verrat ohne Geheimnis. Das gilt schon, seit Judas Jesus rätselhafterweise mit einem Kuss an die Römer auslieferte. Und es zeigt sich auch an der Rede vom "Judas horse". Vor knapp fünfzehn Jahren jagten Landschaftsschützer in Nevada wilde Mustangs, weil die angeblich das Land bedrohten. Die Behörden störten sie mit Helikoptern im Tiefflug auf. Trieben sie bis zur Erschöpfung über die Prärie. Bis sich plötzlich ein abgerichtetes Pferd an die Spitze der Herde setzte, um sie gekonnt in ein zuvor errichtetes Gatter zu führen: auf falscher Fährte von der Freiheit in die Gefangenschaft. "Judas Horse" wurde das trainierte Pferd genannt. Die Geheimnisse dieses Verrats? Muss der Mensch die Wildnis vor der Wildnis retten? Was fühlt ein Mustang, wenn er seinesgleichen verrät? Pferdeschuld? Mustangambivalenz? Einen Funken nie gekannter Freiheit?
"Judaspferd" lautet der Titel des vierten Zyklus von Ralph Dutlis Gedichtband "Alba", der Gedichte aus den vergangenen zwanzig Jahren versammelt. Mit den Versen "Nevada-Roundups zwanzig Meilen über / die verstörte Steppe gehetzt" setzt der Zyklus ein. Mit der Wendung "Hubschrauber zittern scharfe Hornissen / lotsen es weg in das schwarze Nichts / von Adoption und Abdeckerei" stellt er gekonnt das damalige Jagdsetting vor Augen. Dutli erfasst nicht nur präzise die zeitdiagnostische Signifikanz dieser Szene. Er wendet den Verrat auch ins Literarische. Poesie ist für ihn, wenn die (abgerichtete) Sprach- und Versstruktur das musikalisch-wilde Klangliche nach dem Vorbild des Judas-Pferdes ins Gehege lockt: "die musikalischen Lefzen / in den Verschlag gelockt das Leittier schleust / das Wilde das Pferd ins Gehege der Gedanken." Gatter zu, Gedanke gefasst, Freiheit verraten? Doch schon das folgende Gedicht setzt dagegen: "sei streng zu Poesie / dann wird sie dich wiederleben." Und in einer neuen Wendung zur Sprache selbst folgt: "wer noch kein Pferd ist wird es werden 'mustang' der Zunge / 'tang' im Meer ungebändigt Laute." Ralph Dutli in poetischer Bestform. So wie auch auf je eigene Weise in seiner "Bienen-Partitur" oder in den Zyklen "Hörsturz" und "Vom Mundvorrat".
Dutli ist kein Unbekannter. Seit 1995 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Mit renommierten Preisen wurde er wohlbedacht. Seine luzide Essayistik wird nur noch von seiner Übersetzungskunst überstrahlt: Marina Zwetajewa, Joseph Brodsky und Ossip Mandelstam kennen und genießen wir im Deutschen aus Dutlis Hand. Seine Lyrik indes war bislang nur verstreut erschienen. Das heißt aber auch: Dutli-Lesern sind eine Reihe von Texten bereits bekannt. "Hotaru" etwa lag bislang als Liebhaberausgabe in Kleinstauflage vor. Den Zyklus "Hörsturz" wiederum kennen wir bereits aus der "Neuen Rundschau", 2010 publiziert. Selbstverständlich schlagen diese Arbeiten die verschiedensten Töne an und umspannen einen weiten thematischen Horizont.
Das beginnt mit dem Zyklus "Salz", der den Band eröffnet: Diese Gedichte begleiteten 2008 eine populärwissenschaftliche Ausgabe von Thomas Strässles Studie "Salz". Der Literaturwissenschaftler hatte sie als atemberaubend kluge Habilitation vorgelegt, die später bei Hanser erschien. Für den salzigen Vorgeschmack fand Dutli eigene poetische Semantiken des Salzes. Es herrschen Reimlust und Sprachspiel: Salz bleibt / und macht bleiben / Salz schreibt / seit Jahrmillionen sein würziges Tagebuch / Salz macht schreiben." Mit Mut neigen sich die Verse zu der Leichthändigkeit: "salb mich, salz mich / halb mich, halb dich / halt mich - kalt nicht -". In der jetzigen Form allerdings fehlt dem Zyklus jene sachkundige Gravitas, die er bei seiner Erstveröffentlichung durch Strässles Texte erhalten hatte.
Dadurch tritt pointiert zutage, dass Dutli sich nicht mit jedem seiner poetischen Verfahren einen Gefallen tut. Wenn es im Gedicht "Nochmals Ohne" heißt: "ohne / dich zu sein ohne! Oh-ne!", kommt einem aufgrund der Pointenschlichtheit auch ein "O nein" in den Sinn. Wenn das Urmeer einst "vor uns ver - duns - te - te", mag das noch als salzkristalline Elementarkunde überzeugen. Aber fordert doch auch einen Trivialitätsverdacht heraus. Verrat an der eigenen poetischen Fertigkeit? Das ginge zu weit. Denn Dutli in Bestform garantiert poetische Erkenntnis im Herzen des kulturellen Arkanums. CHRISTIAN METZ
Ralph Dutli: "Alba". Gedichte.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024.
199 S., geb.
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