Besprechung vom 25.01.2025
Bewegte Seele
Kleine Schriften von Theodor Lessing
Im August 1933 wurde der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing von nationalsozialistischen Attentätern in Marienbad erschossen. Lessing war seit den Zwanzigerjahren ein bekannter Autor, parteipolitisch nicht engagiert, aber ein Gegner der Rechten. Schon im März 33 war er in die Tschechoslowakei emigriert, es half ihm nichts. Den ungeheuren Hass der Rechten hatte vor allem ein kurzes Porträt - nicht mehr als vier Buchseiten umfasst es - Hindenburgs im Jahr 1925 geweckt. Hindenburg, hieß es dort abschließend, sei kein Nero, aber ein Zero. Leider zeige die Geschichte, dass "hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht". Was diese Prognose so unheimlich machte, das war das erstaunliche Wohlwollen, das über dreieinhalb Seiten Hindenburg entgegengebracht wurde. Er erscheint nicht als der böse Geist der Politik, sondern, weil naiv, ganz und gar unfähig, das "Recht der anderen Seite auch nur zu sehen", dabei eine "klare, wahre, redliche und verlässliche Natur". Kurz gesagt: ein Mann, vollkommen ungeeignet zur Politik.
In den letzten Jahren hat der Wallstein Verlag eine groß angelegte Ausgabe der Schriften Theodor Lessings begonnen. Dass demnächst alle Schriften Lessings zur Verfügung stehen, ist nur zu begrüßen, ob man die Lektüre allgemein empfehlen wird, eine andere Frage. Gerade ist der Band "Chaos und Irrsinn. Kleine Schriften 1921-1923" erschienen, und obgleich die Entstehungszeit doch von ungeheuren politischen Konflikten geschüttelt wurde, spielt Politik nicht die Rolle, die man erwarten sollte. Es gibt eine ganze Reihe von Feuilletons, die ziemliche Schmonzetten sind, launige Betrachtungen alltäglicher Missgeschicke. Da kommt unerbetener Besuch, den man aber nicht brüskieren will; der Erzähler trifft im Trauerhaus ein, um mit den Angehörigen zur Beisetzung zu gehen, und hat sich im Datum vertan, worauf nun beide Seiten in angespannter Höflichkeit wetteifern; es geht um unpassende Geschenke und leere Redensarten.
Manches ist erstaunlich konventionell, so der Aufsatz zu Goethes "Faust". Lessing nennt es eine "beglückende Tatsache, dass abgesehen von Luthers Bibelübersetzung kein zweites Buch "so sehr zur Angelegenheit und zum Hausbuch des ganzen deutschen Volkes geworden ist" wie dieses. "Wie immer deutsche Zukunft wird", der "Faust" werde "die weltliche Bibel unseres ganzen Volkes" sein, die der "Handwerker vornimmt, wenn der Schweiß der Werkstatt vergessen wird". Und dann allerdings die schöne Wendung, dass "zuletzt alles darauf ankommt, bewegte Seele zu bewahren".
Der mit Abstand umfangreichste Beitrag ist "Feind im Land!", eine satirische Behandlung der Politik zwischen 1919 und 1923. Angespielt wird auf Versailles und die Besetzung des Ruhrgebiets, den deutsch-französischen Konflikt und den von Arbeit und Kapital, aber mehr als Anspielungen sind es nicht. Auf französischer Seite tritt Marschall Boche de Trocadero auf (Foch, Marschall von Frankreich und Oberbefehlshaber der Westfront), auf deutscher der Reichspräsident Guschen Ehrlich, "vergleichbar einem dicken mit Wasserstoff aufgefüllten Ballon" (Friedrich Ebert, mit ungeheurer Verachtung dargestellt). Die moralische Hauptfigur aber ist der Arbeiterführer Liebrecht (Karl Liebknecht). Doch seine Sache ist nicht der Klassenkampf. Marx und Engels, Lenin und die Bolschewiki spielen für ihn keine Rolle mehr. Er ist, wie sein Name verrät - die fiktiven Namen bei Lessing sind von bedenkenloser Schlichtheit -, ein Mann der Liebe. Die moderne, wissenschaftlich geprägte Welt verabscheut er: "Der Mensch ist das sachlich gewordene Tier." Der "Feind im Land", das ist für ihn nicht eine fremde Armee wie die französische im Ruhrgebiet, das ist "der Mensch, der die Seele der Erde tötet (...) der Mensch, der der Gottnatur aufdrängt die Normen und Ideale, den toten Wahnsinn der Vernunft".
In seiner Rede "Volkshochschule als Kulturwert" spricht Lessing über Bildung und deren Verformung: "Bonzen machten aus dem Leben des Geistes Disziplinen und Fakultäten (...). Alles wurde erlernbar, errechenbar." Und weiter: "Das war der Teufel. Ja! im allereigentlichsten Sinne: diese Menschheit des sachlichen Geistes ist des Teufels." Theodor Lessing tritt dem Leser in diesem Essay als ein später, radikalisierter, vor allem aber vergröberter Romantiker entgegen. "Man sagt: ,Blumen sind Träume der Erde.' Das ist wahr. Wahr im allereigentlichsten Sinne." Die dreifache Beschwörung der Wahrheit eigentlich - eigentlichst - allereigentlichst macht schon misstrauisch. Träumt die Erde? In Eichendorffs "Mondnacht" ist davon die Rede - aber im Irrealis: "Es war, als hätt . . ." STEPHAN SPEICHER
Theodor Lessing: "Chaos und Irrsinn". Kleine Schriften 1921-1923.
Hrsg. von Rainer Marwedel. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 552 S., geb.
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