Besprechung vom 09.05.2025
Wir waren schon mal emanzipierter
Ulli Lusts "Die Frau als Mensch" ist als erster Comic nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis. Was kann eine gezeichnete Evolutions- und Emanzipationsgeschichte leisten?
Die jetzt bekannt gegebene Nominierung von UIli Lusts "Die Frau als Mensch" für den diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis setzt ein Datum: Es ist der erste Comic, der für diese publikumswirksamste Auszeichnung auf ihrem Feld in Betracht gezogen wird - als einer von acht Titeln. Das sind zwei Kandidaten mehr, als es beim erklärten Vorbild der 2021 erstmals ausgetragenen Sachbuch-Konkurrenz, dem seit 2005 für den "besten Roman des Jahres" vergebenen Deutschen Buchpreis, der Fall ist, aber die Sammelbezeichnung "Sachbuch" umfasst ja auch unterschiedlichste Disziplinen. Und nun auch unterschiedlichste Formen - eine Pioniertat. In der zwanzigjährigen Geschichte des Deutschen Buchpreises hat es noch kein Comicroman zu einer Nominierung gebracht.
Dabei hätten Ulli Lusts drei Vorgängerwerke qualitativ allemal das Zeug dazu gehabt, aber sie erfüllten die Genrevoraussetzung nicht: Mit "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" veröffentlichte die 1967 in Wien geborene und seit den mittleren Neunzigern in Berlin lebende Zeichnerin 2009 eine autobiographische Comic-Großerzählung, die ob der Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber rund um die Welt begeistert aufgenommen wurde. "Flughunde" (2013) war die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Marcel Beyer, und mit dem 2017 publizierten Band "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" kehrte Lust wieder zum eigenen Leben als Stoff zurück. Aus dem Blick geraten sind persönliche Erfahrungen auch im neuen Band nicht.
"Ich bin mit zwei Schwestern aufgewachsen. Mit sechs Jahren habe ich zum ersten Mal einen Penis gesehen." So hebt "Die Frau als Mensch" an, und die erste Seite führt uns in die frühe Kindheit Ulli Lusts in der niederösterreichischen Wachau, wo "das Mensch" im Dialekt als Bezeichnung für ein Mädchen gebraucht wird. So ist der Titel der Studie doppeldeutig lesbar: Er benennt einmal die Selbsterfahrung ihrer Autorin und dann im anthropologischen Sinne die Rolle der Frau im Zivilisationsprozess. Beides deckt sich hier allerdings insofern, als entgegen den üblichen Erwartungen die Stärke von Frauen hervorgehoben wird: Das ungebärdige Mädchen Ulli ist keinesfalls bereit, sich von Buben unterbuttern zu lassen (auch nicht von Erwachsenen, egal ob Männern oder Frauen), und in den Kulturen der Vorzeit findet die Autorin Lust zahlreiche Belege für eine Wichtigkeit von Frauen fürs gesellschaftliche Gefüge, die dem Klischee vom Urmenschen als viriler Dumpfbacke entgegenstehen.
"In zeitgenössischen Bildern sah die Steinzeit bis vor wenigen Jahren männlich aus", stellt Lust fest und setzt dagegen ihre Comicpanels, in denen sie ausgehend von Frühformen menschlicher Selbstdarstellung den Primat des weiblichen Körpers bei der Motivwahl konstatiert. Berühmtestes Beispiel dafür ist die Venus von Willendorf, eine etwa 27.000 Jahre alte Steinskulptur. Gefunden wurde sie 1908 in der Wachau, nicht weit entfernt von dem Dorf, in dem Ulli Lust ihre Kindheit verbrachte, und aus dieser autobiographischen Komponente ist eine Neugier der Zeichnerin erwachsen, die in die siebenjährige Recherche mündete, aus der nun das zweihundertfünfzigseitige Buch resultiert, das aber auch nur der erste Teil des Komplexes ist. Im kommenden Jahr wird eine ebenso umfangreiche Fortsetzung folgen, die dann, anders als im Auftaktband, eine fiktionale Geschichte erzählen wird, die etwa vor dreißigtausend Jahren angesiedelt ist und eine damals lebende Frau zum Mittelpunkt hat. Der Untertitel dieser Fortsetzung soll "Die Schamanin" lauten.
Muss man sich wundern, dass die Jury des Deutschen Sachbuchpreises ein noch gar nicht komplett vorliegendes Projekt für nominierungswürdig gehalten hat? Womöglich darf man erleichtert darüber sein, denn so sorgfältig Ulli Lust auch ihren zweiten Band auf der Grundlage archäologischer Forschung konzipiert hat, wird er doch in weiten Teilen ein Wissenschaftsroman, und als solcher würde er wohl unberücksichtigt bleiben. Der erste Teil dagegen ist eine grafische Tour de Force durch die ältere Menschheitsgeschichte, zudem angereichert mit Phänomenen der modernen Kulturgeschichte, die den Bruch heutiger Lebenspraxis mit derjenigen unserer fernen Vorfahren (und vor allem Vorfahrinnen) deutlich machen. Frauen waren da wesentlich emanzipierter.
Das sind keine Erkenntnisse, die Ulli Lust durch eigene archäologische Betätigung gewonnen hätte; ihr Buch beruht aber auf zahlreichen Gesprächen mit Fachleuten sowie Auswertungen von Studien. Zum Lese- und Lernerlebnis - und damit zum geeigneten Kandidaten für den Deutschen Sachbuchpreis, der "Relevanz des Themas, erzählerische Kraft des Textes, Art der Darstellung in allgemein verständlicher Sprache sowie Qualität der Recherche" als Kriterien für die Vergabe nennt - wird "Die Frau als Mensch" durch die individuelle Perspektive der Autorin auf einen gesellschaftlichen Prozess, den sie über die Menschheitsgeschichte hinweg verfolgt. Lust ist selbst als Figur eine zentrale Akteurin ihres Buchs; die subjektive Komponente von Wissenschaftsdarstellung bei aller Faktentreue wird also nicht verschleiert. Das unterscheidet diesen Comic von den meisten Sachbüchern.
Ulli Lust macht aus ihrem von Interesse geleiteten Forschungseifer kein Hehl, aber die zusammengetragenen Ergebnisse bestätigen dieses Interesse, und es ist auch nicht so, dass in "Die Frau als Mensch" keine abweichenden Meinungen Eingang gefunden hätten; sie werden jedoch durch die empirischen Ergebnisse der Archäologie widerlegt. Ein zwanzigseitiger Anhang legt dazu die Quellen offen. Zugleich ist der Comic besonders evokativ, weil er über den Tellerrand hinausblickt, etwa auf einen Gewährsmann wie den mystisch angehauchten (gleichwohl literarisch genialen) Szenaristen Alan Moore, der auf der letzten Comicseite auftritt, um sein Verständnis von Kunst zu erläutern: "Kunst ist, wie Magie, die Wissenschaft, Symbole, Wörter oder Bilder zu manipulieren, um Bewusstseinsveränderung zu erreichen." Was klingen könnte wie die Bankrotterklärung eines Sachbuchs, das als Comic ja auch Kunstwerk ist, nimmt vorweg, was im zweiten Band Thema ist, wenn es ums Schamanentum gehen wird. "Die Frau als Mensch" selbst ist keine solche Zauberei, es ist einfach ein großartig erzählter Sachcomic. ANDREAS PLATTHAUS
Ulli Lust: "Die Frau als Mensch". Am Anfang der Geschichte.
Reprodukt Verlag,
Berlin 2025.
256 S., geb.
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