Besprechung vom 29.01.2020
Keine alten Schachteln
Valeria Luiselli erzählt eine politisch einschneidende Geschichte mit ästhetisch ausgeklügelten Mitteln
Dieses Buch ist grandios, aber nicht unbedingt aus dem Grund, den Sie vielleicht vermuten. Die Geschichte, die in Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" erzählt wird, wurde oft erzählt: Eine Familie zerbricht, basta. Die Form, die Luiselli dafür wählt, ist neu. Sie verdichtet den Anspielungsreichtum und die politischen wie literarischen Kontexte auf eine direkte, aber ungewohnte Weise, so dass der Ansporn zur Auseinandersetzung mit den Kontexten des Romans so wichtig wird wie seine Geschichte. Denn der Roman liefert sein eigenes Archiv mit: Referenztexte, Literaturlisten, politische wie theoretische Verweise und abgedruckte Fotos, die ein Kind des Romans schoss. Allein durch die Form hallt die Fiktion in die Wirklichkeit hinein, und umgekehrt.
Am Anfang befindet sich die Familie des Romans im Bruch, und am Ende wird sie in ihrer Romanwirklichkeit keine Familie mehr sein, bloß noch eine Familienspur, archiviert in einem Text. Da der Bruch bevorsteht, ist es treffend, dass die Konstellation der Familie wie ein Spiegel ausgerichtet ist: zwei Erwachsene, zwei Kinder. Während die Eltern sich voneinander entfernen, nähern sich die Kinder einander an; während die Eltern schweigen lernen und kaum miteinander reden, lernen die Kinder, zueinander zu sprechen, einander zuzuhören.
Diese Dynamiken in der Familienstruktur, aufeinander zu und voneinander fort, durchwirken den gesamten Roman und finden ihr geeignetes Symbol im zentralen Motiv des Echos, das konstituierend für die Handlung wie für die Ästhetik ist und in einem bewegenden Moment zum Ende des Romans seinen strukturell völlig logischen und gleichzeitig überraschenden Höhepunkt findet.
Die Elternfiguren sind Echosuchende; sie beschäftigen sich mit dem Erforschen von Klang, gehören dem boomenden Feld der Sound Studies an. Der Vater arbeitet an einem Klangprojekt über amerikanische Ureinwohner, und die Familie, samt der beiden Kinder, bricht zum road trip in die Apacheria auf, jenem Land im Süden der Vereinigten Staaten an der Grenze zu Mexiko, das von den Apachen bevölkert wurde. Seine Frau, die als Journalistin und Gerichtsübersetzerin für Migrantenfamilien arbeitet, nutzt die Gelegenheit der Reise, um an ihrem eigenen Projekt zu feilen, einer Dokumentation über die Kinder von eingewanderten Familien, Eingewanderten, die der amerikanische Staat "illegal" nennt.
Während die Geschichte der Familie auf ihrer Fahrt erzählt wird, wirft Luiselli dieser Erzählung eine Reihe von Echos anderer Geschichten entgegen, historischer wie literarischer Art; am ergreifendsten, wenn sie von einer Migrantin erzählt, der die Protagonistin einst als Übersetzerin behilflich war und deren Kinder während der Flucht in die Vereinigten Staaten in der Wüste verlorengingen. Doch die Echowellen schlagen viel weiter aus und kristallisieren das Herz des Buchs um eine Aussage der Protagonistin über ihr Projekt: "Ich weiß noch nicht genau, wie ich es anstelle, aber meine Geschichte muss von den vermissten Kindern handeln, deren Stimme nicht mehr gehört werden kann, weil sie wahrscheinlich für immer verloren sind. Vielleicht jage ich, wie mein Mann, Geistern und Echos hinterher."
Die 1983 in Mexiko geborene, heute in den Vereinigten Staaten lebende Autorin wird spätestens seit ihrem Essayband "Tell Me How It Ends" von diesem Thema heimgesucht, in dem sie von ihren eigenen Erfahrungen als Übersetzerin für Einwandererkinder schrieb. "Archiv der verlorenen Kinder" ist Luisellis dritter Roman (nach "Die Schwerelosen" und "Die Geschichte meiner Zähne"), jedoch ihr erster auf Englisch verfasster. So ist die im Roman anklingende Migration selbst abgeformt in der kontextuellen Lebensgeschichte der Autorin - der Roman als Migration von einer Sprache in die andere.
Luisellis Interesse an Menschen, die ihrer historischen Kontexte beraubt wurden, führt zu einer Literatur, deren Kontexte so entscheidend sind wie ihr Narrativ. Dieser Roman wird besonders auf Resonanz stoßen, wenn er politisch gelesen wird in Zeiten, da das "Trumpeltier" im Porzellanladen des Weißen Hauses wütet und hinter der täglich vertwitterten Nebelkerze aus dem Oval-Office-Chaos Gesetze implementiert, die Migrantenkinder von ihren Eltern trennen, in Käfige sperren und ihnen Asyl verwehren. Luisellis Roman spricht offen zu diesen Themen und verdeutlicht auf eine willkommen unzeitgemäße Weise den Glauben an das aufrührerische Potential von Literatur. Die grandioseste Neuerung des Romans liegt aber darin, wie die Form die Kontexte anregt. Luiselli findet eine dichte Sprache, eine straff strukturierte Syntax, die selbstsicher, aber suchend linear voranrauscht und überall literarische und historische Anklänge aufnimmt. Diese Linearität wird durch Zwischenkapitel aufgebrochen. Während ihrer Reise hat die Familie verschiedene Schachteln bei sich, die sie mit Forschungsmaterialien, Musik, Tonbändern, Landkarten und besonders Lektüre befüllt hat. Die Zwischenkapitel stellen listenhafte Beschreibungen dieser Schachteln dar und lösen so die Linearität auf. Wie ein Echo.
Die gelisteten Bücher bieten kontextuell Anreicherung: Historien und Theorien zu Migration, zu Klang- oder Archivphänomenen. Das Werk legt seine Kontexte offen und schafft einen assoziativen Echoraum, der über die erzählte Geschichte hinausgeht. Dahinter verbirgt sich keine schnöde Bibliographie, denn Luiselli ist eine Fiktionärin, eine große Erzählerin, und einer der Texte in den Schachteln, "Elegien für verlorene Kinder" der Autorin Elena Camposanto, ist eine kluge Fiktion der Autorin.
Camposanto liefert der Protagonistin wichtiges Reflexionsmaterial, da der Roman im Roman ermöglicht, das Thema von Kindern, deren Leben durch Migration und repressive Migrationspolitik beschädigt wurde, zunächst nur als Erzählung zu betrachten. Erst im nächsten Schritt, wenn die Protagonistin durch ihre Leseeindrücke nach Echos des Literarischen in der Wirklichkeit sucht, werden die ungeheuerlichen Parallelen deutlich. Gleichzeitig zeigt Luiselli somit eine einfache Möglichkeit des Umgangs mit literarischen Texten, nämlich die Leseerfahrung einer Fiktion auf die Wirklichkeit zu blenden und die Realität in neuem Licht zu betrachten - vielleicht ein Anstoß, wie mit "Archiv der verlorenen Kinder" verfahren werden könnte.
Camposanto ist das spanische Wort für Friedhof. Und darin liegt ein Schlüssel für Luisellis Roman, der auf obsessive Weise um seine Themen kreist und durch eskalierende Reduktion Camposantos Roman gegen die Familie von Luisellis Roman spiegelt. In dieser Reduktion liegt der Weg zur Erkenntnis, da durchs Zusammenziehen erst wieder das Ausschweifen möglich wird, das Echo, das sich Lesende selbst hörbar machen müssen. In einem früheren Essay zitiert Luiselli einmal Joseph Brodsky: "Wenn es einen unendlichen Aspekt des Raumes gibt, dann ist das nicht seine Ausdehnung, sondern seine Reduktion . . . Zelle, Wandschrank, Grab."
JAN WILM
Valeria Luiselli: "Archiv der verlorenen Kinder".
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Kunstmann Verlag, München 2019. 432 S., geb.
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