Am 28. März 2024 wurde Sam Bankman-Fried nach der Insolvenz seiner Kryptowährungsbörse FTX unter anderem wegen Anlagebetrug und Geldwäsche zu 25 Jahren Haft verurteilt. Noch wenige Jahre zuvor war er als das neue Krypto-Wunderkind gefeiert worden, das sich praktisch über Nacht auf die Forbes-Milliardärsliste katapultiert hatte. Was war geschehen? Bestsellerautor Michael Lewis hatte unbegrenzten Zugang zu Sam Bankman-Fried und seinem inneren Kreis und erzählt nun dessen Geschichte. Er nimmt Sie mit auf eine Reise in die Welt der Kryptowährungen, führt Sie aber auch tief in die Gedankenwelt von Bankman-Fried, dessen phänomenaler Aufstieg und Fall die Welt bewegte.
Besprechung vom 23.12.2024
Die Tragik des betrogenen Kindes
Wer war FTX-Gründer Bankman-Fried?
Sam Bankman-Fried, Gründer der Kryptobörse FTX, erlebte im Jahr 2022 einen ebenso kometenhaften Aufstieg wie Fall. Sein Name wurde für viele zum Synonym für betrügerische Machenschaften mit sogenannten Kryptowährungen. Der amerikanische Wirtschaftsjournalist Michael Lewis ist dem Fall nachgegangen. Nicht dem von FTX, sondern von Bankman-Fried. Wer war dieser Typ? Dies ist die Frage, die Lewis selbst im Prolog formuliert.
Auf 350 spannenden und höchst unterhaltsamen Seiten zeichnet Lewis ein facettenreiches Charakter- und Lebensbild des FTX-Gründers, ohne am Ende ein Urteil fällen zu wollen. Tatsächlich lassen Komplexität und Widersprüchlichkeit ein simples Daumen hoch/Daumen runter nicht zu. Lewis skizziert "SBF" aus mehreren Perspektiven: seiner eigenen Wahrnehmung, den Aussagen Dritter und nicht zuletzt denen des Protagonisten über sich selbst. Dabei gelingt es ihm immer wieder, Schlüsselmomente und -aussagen von Personen, die seinen Lebensweg gekreuzt haben, als Höhepunkte zu präsentieren. Man mag sich fragen, ob dies dem Autor immer bewusst gewesen ist. Falls ja, ist es gekonnt choreographiert.
Der erste solche Schlüsselmoment reflektiert Bankman-Frieds Kindheit: Vater Joe Bankman sagt da über seinen Sohn: "Er fühlte sich nie wohl mit Kindern oder damit, ein Kind zu sein." Und dann zitiert Lewis die Eltern, sie hätten "kurz versucht, ihm eine normale Kindheit zu bescheren", was er nie gewollt habe, und berichtet vom Besuch mit der Mutter im Vergnügungspark. "Hast du Spaß, Mom?", fragt Sam da. Es ist der früheste Moment im Leben des Protagonisten, wie es von Lewis berichtet wird, in dem sich der Eindruck aufdrängt, dass dieser zeitlebens ein verlassenes Kind blieb, dem nichts anderes übrig blieb, als seine Gefühle abzuspalten, weil diese von den Eltern nicht verstanden wurden, die mit einem Kind nichts anfangen konnten. Dazu passt auch Lewis' Beschreibung des Haushalts der Bankman und Frieds: Professoren aus einer urbanen liberalen amerikanischen Elite, nie verheiratet (zu spießig), unterhielten sie ein gastfreies Haus, in dem stets intellektualisiert wurde, wie die Welt zu sein habe - und wo darüber offenbar die kleine Welt vor den eigenen Füßen übersehen wurde.
Auch wenn Lewis solche Schlüsse nicht zieht: Implizit ist es stets zu spüren. Etwa wenn er einen Gegensatz zwischen "SBF" und den "Erwachsenen" aufbaut. Am Ende bleibt der Eindruck von Bankman-Fried als Zerrbild dessen, was seine Eltern ihm vorgelebt zu haben scheinen: Mit wenig Zugang zu den eigenen Gefühlen fehlt es ihm an Empathie. In seinem kindlichen Selbst nie akzeptiert, bleibt er eine unreife Persönlichkeit, die Erwachsensein nur zu imitieren vermag und dagegen opponiert. Bei Videointerviews spielt Sam fortwährend das Videospiel "Magic: The Gathering" und achtet kaum auf die Fragen - Flucht aus der "erwachsenen" Situation in eine Phantasiewelt. Sam schließt sich den "effektiven Utilitaristen" an, deren Lebensmaxime es ist, möglichst viel Geld zu verdienen, um damit die Welt zu verbessern - ein Krampf intellektueller Hybris, der sich in der Realität als nicht besser erweist als effektiver Egoismus. Rücksichtslos wird gerafft, nur dass man das Geld nicht behalten will. Den fehlenden moralischen Kompass ersetzt die vage Maxime - und die Mathematik, deren logische Klarheit Sam hilft, mit der unverstandenen Ambivalenz der Welt zurechtzukommen. Dies gipfelt darin, dass er bereit ist, die Zukunft der Welt von einem Münzwurf abhängig zu machen, wenn der Erwartungswert positiv ist. Ratgeber und Fachliteratur zur Unternehmensführung lehnt er ab: zu uneindeutig.
In der fehlenden Mimik, wie sie schwer Depressiven zu eigen ist, zeigt sich die Trauer des Kindes, dem die Kindheit versagt wurde - und noch mehr, als nach seiner Verhaftung sich zur Überraschung aller unter seinen persönlichen Gegenständen ein abgenutztes Stofftier findet, das er schon zu seiner Geburt besaß. Doch warum gelang es Bankman-Fried, Öffentlichkeit und Mitarbeiter zu überzeugen? Lewis' Schilderung legt nahe, dass die Beziehungslosigkeit zu seiner Umwelt ihn zur idealen Projektionsfläche machte. "Ich wollte, dass es einen Sam gibt", sagt FTX-Anwalt Dan Friedberg. Und Sam gab scheinbar allen, was sie wollten. Im wahrsten Sinne des Wortes sagte er Ja, um etwas anderes zu tun. Die Lüge war damit seine zweite Natur - wobei dieser Begriff für ihn genauso wenig Bedeutung hatte wie für ein Kleinkind.
Dieser tragischen Groteske setzt die Krone auf, dass Lewis am Ende zeigt, dass FTX nie insolvent war. Nur war der Aufbau des Firmengeflechts so kindisch chaotisch, dass dies alle Mitarbeiter glaubten und sich aus dem Staub machten. Nicht einmal Bankman-Fried selbst hatte einen Überblick. Den mussten sich erst die "Erwachsenen" verschaffen.
Lewis' Buch ist eine absolut lesenswerte, faszinierende Charakterstudie, die den Protagonisten in seiner Komplexität zeigt. Er vermeidet es, seine Leser mit Details der Kryptowelt zu langweilen. Rätseln mag man nur über den Untertitel: "Die Geschichte eines amerikanischen Albtraums", die der Plassen Verlag kreiert hat. Für wen war es ein Albtraum? Für die Welt - oder für Bankman-Fried? MARTIN HOCK
Michael Lewis: Sam Bankman-Fried - Die Geschichte eines amerikanischen Albtraums. Plassen Verlag, Kulmbach 2024, 350 Seiten
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