Einleitung
Mit Der Duft der fernen Insel legt Christina Rey einen umfangreichen Roman von stolzen 635 Seiten vor. Für mich persönlich war es das erste Mal, ein so langes Buch zu lesen, doch die Reise hat sich durchaus gelohnt. Es handelt sich dabei um den zweiten Band einer Reihe, die jedoch nicht direkt mit dem ersten Teil verbunden ist, sondern vielmehr im gleichen Stil und thematisch ähnlich gestaltet wurde. Erneut begleiten wir eine Sultanstochter, diesmal die blinde Nunu, und erleben ihre Geschichte über gut ein Jahrzehnt hinweg. Unterstützt wird sie von der jungen englischen Lehrerin Eve, die nach Sansibar kommt, um ihr Lesen und Braille-Schrift beizubringen. Neben ihnen treten zahlreiche Nebenfiguren auf, die die Handlung bereichern und verschiedene Handlungsstränge eröffnen.
Themen
Zentral verknüpft sind die Themen Blindheit, Düfte und die Kunst der Parfümherstellung. Durch Nunus außergewöhnliche Nase wird ein Strang eröffnet, der sich durch den gesamten Roman zieht und in allen drei großen Abschnitten eine Rolle spielt. Gleichzeitig geht es um Politik, Wirtschaft, kulturelle Begegnungen und die Stellung von Frauen im 19. Jahrhundert. Gerade letzteres hat mich stark bewegt: immer wieder werden uns die Grausamkeiten und Leiden vor Augen geführt, die Frauen und Mädchen ertragen mussten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Leben im Palast des Sultans. Wir erleben hautnah, wie das Zusammenleben mit mehreren Frauen im Harem, mit zahlreichen Halbgeschwistern und den ständigen politischen Spannungen funktioniert. Diese Strukturen sind geprägt von Nähe, Rivalität, Abhängigkeit und Machtkämpfen, was der Autorin sehr eindringlich gelingt.
Darüber hinaus zieht sich das Thema Religion wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Wir begegnen Figuren, die im Christentum verwurzelt sind, andere wiederum leben im Islam, und auch Voodoo sowie afrikanische Glaubensvorstellungen rund um Ahnen, Natur und Götter haben ihren Platz. Das Buch bietet dadurch einen vielschichtigen Einblick in das religiöse Leben dieser Zeit. Besonders spannend fand ich, dass es nicht nur bei Beschreibungen bleibt, sondern die Figuren selbst immer wieder Fragen aufwerfen: Welcher Glaube ist der richtige? Wer ist der wahre Gott? Kann die Welt so grausam sein, wenn es wirklich einen Gott gibt, der alle Menschen beschützen soll?
Gerade diese Auseinandersetzungen, die sehr menschlich und nachvollziehbar dargestellt sind, haben mir als Atheistin überraschend gut gefallen. Ich habe die vielen verschiedenen Einblicke geschätzt, ohne dass eine Religion moralisch über die andere gestellt wird. Vielmehr zeigt die Autorin, wie sehr Glaubensvorstellungen das Leben prägen, aber auch, wie Figuren lernen müssen, miteinander zu leben, obwohl sie unterschiedliche Überzeugungen haben.
Orte und Atmosphäre
Wir bewegen uns in diesem Buch nicht nur auf Sansibar, sondern erleben auch andere Teile Afrikas und schließlich sogar Europa. Dadurch treffen ganz unterschiedliche Kulturen, Traditionen und Lebensweisen aufeinander, was die Geschichte unglaublich reich und lebendig wirken lässt. Dieses Zusammenspiel aus Orten und Kulturen hat mir sehr gefallen, weil es das Gefühl verstärkt, wirklich eine weite, facettenreiche Reise zu unternehmen. Erst im Detail merkt man dann, wie sehr auch die Sprachen Arabisch, Kisuaheli, Französisch und Englisch miteinander verwoben sind. Das bereichert die Welt zwar, hat mir aber manchmal kleine Schwierigkeiten bereitet, weil einzelne Begriffe oder Anreden ungewohnt waren und ich manches nachgoogeln musste.
Perspektiven und Erzählweise
Der Roman ist in Abschnitte gegliedert, die jeweils bestimmte Figuren stärker in den Vordergrund stellen. So begleiten wir hauptsächlich Eve, Nunu und später auch Fanny. Am Ende kommt noch eine weitere Figur hinzu, die jedoch nur wenige Kapitel umfasst. Auch wenn sich der Fokus verschiebt, bleibt der Erzähler stets allwissend. Das bedeutet, dass wir neben den zentralen Handlungen auch Informationen über andere Orte oder Figuren erhalten. Diese Struktur fand ich grundsätzlich interessant, da sie Abwechslung bietet. Dennoch hatte ich im ersten Teil, besonders während der langen Einführung rund um Eve, Schwierigkeiten, richtig in die Geschichte hineinzufinden. Erst nach über hundert Seiten stellte sich dieses vertraute Gefühl ein, das ich schon aus Band eins kannte: das Mitfiebern, die Verbundenheit mit den Figuren und die Spannung, welche Konsequenzen ihre Handlungen nach sich ziehen würden.
Schreibstil und Lesefluss
Christina Reys Schreibstil zeichnet sich durch eine sehr bildhafte, detailreiche Sprache aus. Schon im ersten Band gefiel mir, wie ausführlich sie Landschaften, Orte oder auch die Atmosphäre beschreibt. Im zweiten Band hatte ich jedoch das Gefühl, dass diese Beschreibungen etwas zurückgenommen wurden. Sie tauchen zwar immer noch auf, sind aber situationsbezogener eingebettet und nicht mehr ganz so dominant wie zuvor. Grundsätzlich gefällt mir diese Art des Erzählens sehr, da sie eine intensive Vorstellung der Welt ermöglicht. Allerdings wurde mein Lesefluss durch bestimmte stilistische Mittel gestört. Mehrfach unterbricht der Erzähler die Gegenwart mit Sätzen wie Später wird Eve erfahren, dass oder Später erfuhr sie, dass . Solche Einschübe nahmen mir die Spannung und wirkten eher hemmend. Hinzu kommt, dass ich durch die Vielzahl an Figuren, Namen und politischen Verwicklungen gelegentlich den Überblick verlor und Passagen mehrfach lesen musste. Hier hätte ich mir ein Glossar gewünscht, um fremde Begriffe, Titel oder Anreden leichter nachschlagen zu können.
Handlung und Struktur
Die Handlung erstreckt sich über mehr als ein Jahrzehnt, was dem Roman eine große zeitliche Weite verleiht. Dadurch wirkt die Entwicklung der Figuren authentisch, weil Beziehungen wachsen, Fehler begangen und korrigiert werden und das Leben nicht in wenigen Wochen erzählt, sondern über Jahre hinweg entfaltet wird. Der erste große Abschnitt gehört Eve. Wir begleiten sie von Liverpool bis nach Sansibar, lernen ihre Schülerin Nunu kennen und beobachten, wie sie sich auf die neue Kultur und die ungewohnte Umgebung einlässt. Danach rückt Nunu selbst stärker in den Mittelpunkt. Ihre Entwicklung vom neugierigen, etwas frechen Kind hin zur jungen Frau, die Fehler macht, daraus lernt und ihren eigenen Weg findet, war für mich einer der stärksten Teile des Romans. Im letzten großen Abschnitt begegnen wir Fanny, Eves Begleiterin. Leider verlor ich an diesem Übergang kurz den Anschluss an Eve, da ihre Geschichte kaum weitergeführt wurde, was ich etwas schade fand. Dennoch war es spannend, auch Fannys Perspektive genauer kennenzulernen.
Figuren
Die Figuren sind zahlreich und komplex. Besonders Eve hat mir als Einstieg sehr gefallen: eine junge Frau aus England, die zwischen den Kulturen steht, neugierig und doch unsicher, dabei stets bemüht, Nunu zu fördern. Nunu selbst ist eine außergewöhnliche Figur blind, aber mit einem feinen Gespür für Düfte, das sie später in die Parfümherstellung führt. Ihre Entwicklung war nachvollziehbar und vielschichtig, nie übertrieben, sondern voller kleiner Rückschritte und Fortschritte, die sie lebendig wirken lassen. Fanny bildet schließlich einen Kontrast: eine Figur, die man anfangs eher im Hintergrund erlebt, die aber in ihrem eigenen Abschnitt an Tiefe gewinnt. Insgesamt gelingt es der Autorin, viele Charaktere lebendig zu gestalten, doch es war für mich stellenweise schwierig, bei all den Namen und Verwandtschaftsverhältnissen den Überblick zu behalten.
Emotionalität
Emotional hat mich das Buch sehr berührt, besonders in den Abschnitten, in denen das Leid der Figuren deutlich wurde. Die Fluchtsequenzen etwa waren voller Spannung, und mehr als einmal fühlte ich mich an den Nervenkitzel aus dem ersten Band erinnert. Gleichzeitig fand ich es schade, dass die Autorin fast ausschließlich negative Höhepunkte setzt. Schöne, positive Momente kamen nur vereinzelt vor, und erst im letzten Abschnitt erlebte ich wirklich rührende Szenen, die mich so bewegt haben, dass ich Tränen vergoss. Diese Stellen wirkten für mich aber zu kurz und kamen zu spät. Ich hätte mir gewünscht, dass das Gleichgewicht zwischen schmerzhaften und schönen Momenten etwas ausgewogener gewesen wäre, denn auch Glück kann eine Handlung vorantreiben und Figuren lebendig machen.
Schluss und Ende
Das Ende empfand ich als sehr abrupt. Nach so vielen Seiten voller Aufbau, Intrigen und Entwicklungen hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte zu schnell abgeschlossen wurde. Neue Figuren wurden eingeführt, die viel Potenzial gehabt hätten, erhielten aber kaum Raum. Besonders bedauerlich war, dass manche liebgewonnenen Charaktere nur noch im Nebensatz Erwähnung fanden, sodass ihre Schicksale nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die sie verdient hätten. Zwar gab es einen schönen Ausklang, doch der war für mich zu knapp und hinterließ das Gefühl, dass die Geschichte unausgezählt endete.
Fazit
Der Duft der fernen Insel ist ein groß angelegter Roman, der mich trotz einiger Schwächen beeindruckt hat. Er ist nicht so stark und rund wie der erste Band, doch Christina Rey gelingt es erneut, eine faszinierende Welt voller Figuren, Kulturen und Emotionen zu erschaffen. Besonders die lange Zeitspanne, die wir mit den Figuren verbringen, und die Themen rund um Düfte und Sinneswahrnehmung haben mir sehr gefallen. Kritikpunkte wie der holprige Einstieg, die vielen Namen ohne Glossar, die oft negative Gewichtung der Höhepunkte und das abrupte Ende haben mein Leseerlebnis etwas getrübt. Dennoch war es eine lohnenswerte, intensive Reise, die mich an vielen Stellen berührt hat. Wer sich auf die Länge und den detailreichen Erzählstil einlässt, wird mit einer spannenden, gefühlvollen Geschichte belohnt.