Ein Blick hinter die Fassaden einer Vorstadt
Kate Kemps Debütroman Lauter kleine Lügen beginnt mit einem spektakulären Mordfall. Ein Krimi also? Keineswegs, oder eben nicht ausschließlich. Die reine Krimihandlung ist eher unspektakulär und die Aufklärung des Falles steht nur scheinbar im Mittelpunkt des Buches. Vielmehr blicken wir hinter die Hecken der Vorgärten und die Fassaden der Einfamilienhäuser in einer beschaulichen Vorstadt Canberras. Wir schreiben das Jahr 1979 und über der kleinen Siedlung, die in einer Sackgasse liegt, drückt die Hitze des australischen Sommers. Hier leben ganz gewöhnliche Menschen doch was bedeutete das in der damaligen Zeit? Es gilt das weiße, christlich geprägte, patriarchale, heterosexuelle Normativ. Ungeachtet der Tatsache, dass die Menschen diesem auch damals schon nicht entsprochen haben. Kemp spricht viele Themen an, Rassismus, Sexismus, Ausgrenzung und Mobbing, Vorurteile und Lügen. Und trotzdem ist Lauter kleine Lügen keine schwere Lektüre. Im Gegenteil, ich habe mich durch den lebendigen Schreibstil und die gelungene Darstellung der Atmosphäre der kleinen Straße großartig unterhalten gefühlt. Kemp beschreibt, ohne den Zeigefinger zu erheben. Und so tauchen wir ein in diese Welt mit all ihren Gerüchten und Geheimnissen, lernen die Bewohner kennen und erleben hautnah, wie es sich damals angefühlt hat. Wir betrachten vieles durch die Augen der 12jährigen Tammy, erleben die unterschiedlichen Frauenbilder, machen uns Gedanken über hetero- und homosexuelle Geschlechterrollen, erleben Multiethnizität, Unzufriedenheit und unerfüllte Wünsche, erlittene Traumata und befreiende Entwicklungen. Man merkt dem Buch an, dass Kate Kemp systemische Psychotherapeutin ist. Und das ist alles andere als ein Manko. Denn meine Antwort auf die Frage, worum es in diesem Roman geht, lautet: Es geht um Identität. Lauter kleine Lügen ist ein großartiges feministisches Buch, ein Sittengemälde der Endsiebzigerjahre des 20.Jahrhunderts, ein Spannungsroman und ja, irgendwie auch ein Krimi. Ich spreche voller Überzeugung meine uneingeschränkte Leseempfehlung aus.