Besprechung vom 28.07.2022
Löcher im Beton
Krieg und Bürgerkrieg in der griechischen Literatur
Die spinnen, die Griechen! Zumindest ist bislang kein anderes Universitätsinstitut in Deutschland auf die irre Idee gekommen, einen eigenen Belletristik-Verlag zu betreiben. Nur die Neogräzisten von der Freien Universität Berlin bringen seit ein paar Jahren in schöner Regelmäßigkeit Romane, Erzählungen und Gedichte heraus. Viele davon Klassiker der griechischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und hierzulande weitestgehend unbekannt. Jetzt kann man sie kostenlos online lesen oder in Taschenbuchform zu moderaten Preisen als Book-on-demand bestellen.
Grundstock und Ausgangspunkt für das Projekt ist Romiosini, ein kleiner Kölner Verlag, der seit den achtziger Jahren griechische Literatur in Deutschland zu verbreiten suchte. In der Edition Romiosini des Centrum Modernes Griechenland der FU erscheinen nun überarbeitete Neuausgaben aus der Backlist des ursprünglichen Verlags, aber auch neue und ganz aktuelle Titel. Liest man sich langsam durch das umfangreiche Programm, staunt man, wie früh die literarische Moderne in Griechenland Fuß gefasst hat - hat sich das Neugriechische doch erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu einer eigenständigen Literatursprache entwickelt.
So empfindet man den streng sachlichen Stil, in dem Thanassis Valtinos den "Marsch der Neun" beschreibt, die letzte Flucht einer Gruppe kommunistischer Kämpfer im griechischen Bürgerkrieg, noch heute als geradezu zeitgemäß, genau wie die dokumentarische Art, in der Valtinos in der "Legende des Andreas Kordopatis" vom Versuch eines Mannes berichtet, Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die USA auszuwandern. Beide Erzählungen sind in dem Band "Abstieg, flussaufwärts" enthalten und gehören zum Bedeutendsten, was die europäische Erzählkunst im zwanzigsten Jahrhundert hervorgebracht hat.
Man staunt auch ob der ungewohnten Perspektiven, die die griechische Literatur auf die Umwälzungen der letzten hundert Jahre zu bieten hat. So rückt die vielstimmige in Kairo, Alexandria und Jerusalem angesiedelte Romantrilogie "Die zerstreuten Städte" von Stratis Tsirkas den Fokus auf Nordafrika und den "persischen Korridor" (Dan Diner) als entscheidende Schauplätze des Zweiten Weltkriegs.
Leicht vergisst man hierzulande auch, dass die Griechen in den vierziger Jahren gleich zwei traumatische Erfahrungen machen mussten: Erst die der brutalen deutschen Besatzung, dann die des Bürgerkriegs. Von den Nachwirkungen des Bürgerkriegs, den Verwerfungen innerhalb der Familien handelt die jetzt in überarbeiteter deutscher Fassung vorliegende Novelle "Jaguar" von Alexandros Kotzias. Sie spielt an einem einzigen Tag und einer einzigen Nacht des Jahres 1958 in Athen. Filio landet mit einem Flugzeug aus Boston und wird von ihrer Schwägerin Dimitra am Flughafen in Empfang genommen. Schon hier tritt der Konflikt zwischen beiden zu Tage: eine Erbschaftsstreitigkeit. Wie immer bei Erbschaftsstreitigkeiten geht es aber nicht eigentlich ums Geld, sondern um Verletzungen aus der Vergangenheit, um Eifersucht, Missverständnisse, gekränkte Eitelkeiten, Verrat.
Aufgebaut ist die Erzählung als innerer Monolog Dimitras, einer wahren Giftspritze; kaum vorstellbar, dass in irgendeinem anderen Buch der griechischen Literatur so hemmungslos geflucht wird. Fast zerreißt es diese Dimitra, denn innerlich spuckt sie Gift und Galle gegen ihre Schwägerin, dieses "Luder" und "Loch". Äußerlich aber will sie Filio bezirzen, um sie zu einer Unterschrift zu bewegen, die ihr das immobile Erbe sichern würde.
Ironischerweise liegt das fragliche Haus in einer Gegend, wo "die Deutschen in diesem Jahr einen Mittelmeercampingplatz eingerichtet haben". So befeuern die Deutschen, gerade einmal vierzehn Jahre nachdem sie als Besatzer vertrieben wurden, nun als Touristen die unaufgearbeiteten Konflikte des Bürgerkriegs. Dimitra gehört zu den Kommunisten; die "Monarchofaschisten" rissen ihr im Gefängnis die Nägel aus, ihr Bruder, Filios Mann, wurde von ihnen hingerichtet, und Filio, die Verräterin, entschwand mit einem amerikanischen Soldat, dem Klassenfeind, nach Amerika. Dass sie dort kein verlottertes Luxusleben führt, sondern als Putzfrau versucht, sich und ihren Sohn über Wasser zu halten, will Dimitra freilich nicht sehen.
Mit "Jaguar" lieferte Alexandros Kotzias (1926 bis 1992) ein Kammerspiel, in dem nicht nur symbolisch die Blitze zucken. Irgendwann laufen die beiden Frauen im Regen durch die Nacht, die Stadt ein Labyrinth aus immergleichen Mietshäusern, "eines wie das andere". Die Vergangenheit, so scheint es, wurde zubetoniert. Aber die Konflikte schwelen weiter. TOBIAS LEHMKUHL
Alexandros Kotzias: "Jaguar"
Aus dem Neugriechischen übertragen von Hans Eideneier, überarbeitet von Birgit Hildebrand. Edition Romiosini, Berlin 2022. 118 S., br.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Jaguar" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.