Titus Müller schreibt bemerkenswerte Romane über historische politische Ereignisse. Er nutzt fiktive Personen, die uns schildern, wie sie die Nürnberger Prozesse erleben, was sie fühlen und wie es auf sie wirkt. Er beschreibt auch das Leben in der kriegszerstörten Stadt Nürnberg, die Wohn- und Lebensumstände, das Leid der Menschen und die Veränderungen auf ihr Leben.
1946 - Ada arbeitet für die Amerikaner als Simultandolmetscherin bei den Nürnberger Prozessen. Dort trifft sie einen Kriegshäftling erneut, der nicht nur sehr neugierig und liebenswert ist, darum undurchsichtig wirkt. Für ihre Stellung ist dieser Kontakt ein Konflikt. 1945 wurde erstmals im Hauptquartier der Vereinten Nationen in Genf ein von der Firma IBM entwickeltes erstes elektrisches System zum Simultandolmetschen mit Mikrofonen, Mischpulten und Kopfhörern verwendet. In Nürnberg ist es für die Dolmetscher dies wichtiges Arbeitsinstrument um alle Prozessparteien und Zuhörer gleichwertig zu informieren.
Ada hat aber auch persönliche Gründe bei den Nürnberger Prozessen mitzuwirken, denn ihre Familie war früher zu Gast bei Familie Göring. Hermann Göring, Hitlers designierter Nachfolger und Luftwaffe-Oberbefehlshaber ist ein berechnender Mann, der seine Leidenschaft für dekorierte und fantasievolle Uniformen auch vor Gericht auslebt. Ihm gelingt es weiter, Menschen in seinen Bann zu ziehen und zu manipulieren. Auch die Alliierten kämpfen jeder für sich, sie misstrauen einander und vertrauen auf ihre eigenen Geheimdienste.
Titus Müller ist Geschichtserzähler und ein brillanter Geschichtenerzähler. Themen und Ereignisse, die im Geschichtsunterricht nicht mehr an die Reihe kamen, denn bei mir grätschte z.B. die innerdeutsche Grenzöffnung in den Lehrplan oder einen damals auch wohl nicht so interessierte, die lasse ich mir gern durch Titus Müllers Romane näherbringen. Während und nach der Lektüre habe ich immer wieder im Netz recherchiert und nachgelesen. Hätte ich abgewartet bis zum Nachwort, hätte ich manches auch dort nachlesen können.
Er beherrscht mit Worten zu jonglieren und Szenen wunderbar bildreich zu beschreiben. Zu Beginn der Lektüre habe ich langsam und genüsslich jeden Satz gelesen und mir gesagt, dass ich mir Zeit nehmen will, das Buch in Ruhe weiterzulesen. Absätze auch, weil sie so schön sind, ein zweites Mal zu lesen. Leider habe ich das nicht durchgehalten, die Spannung war schuld. Ich ertappte mich, weil ich mir nicht mehr jedes Wort über die Zunge gleiten ließ.
Beispiel für bildhafte Sprache:
S. 6: Sie lagerten beieinander wie Raubtiere nach getaner Jagd, zufrieden und satt gefressen. Unter dem friedlichen Himmel, beim Tschilpen der Spatzen im Gebüsch, hockte das Böse auf der Wiese, es hatte sich eingenistet, es klebte wie Schlamm an den Gräsern.
Großartig!
S.49: unter seinen Schuhen schmatzte der Schlamm
Man kann es sich so richtig schön vorstellen und wenn man die Bilder aus Wacken sieht, dann möchte man rufen: Hey, unter Deinen Schuhen schmatzt der Schlamm.
Die Handlung klingt in mir nach und ich bin noch nicht fertig mit dem Thema.
Es ist großartig, wie der Autor die vielen Fakten, mit nur wenig Fiktion, zu diesem spannenden und sich gut lesenden Roman zusammengeführt hat. Das beweist Titus Müller ein weiteres Mal mit seinem aktuellen Werk. Das Buch bleibt selbstverständlich für ein reread in meinem Regal.
Überzeugte Leseempfehlung!