Besprechung vom 23.03.2025
Elektroschocks
Wer angesichts der militärischen und geopolitischen Lage die Abtretung der besetzten Gebiete an Russland für alternativlos hält, sollte Victoria Amelinas überlieferte Reportage lesen
Von Claudia Dathe
Victoria Amelinas Reportage "Blick auf Frauen, den Krieg im Blick" beginnt mit einer Alltagsszene, wie sie kontrastreicher nicht sein könnte: Als Russland am 24. Februar 2022 mit einer groß angelegten Invasion die Ukraine überfällt, ist Amelina, die wie so viele hofft, dass es nicht zum Äußersten kommen würde - mit ihrem zehnjährigen Sohn auf einer Urlaubsreise in Ägypten. Während sie dort aufgrund des eingestellten Flugverkehrs festsitzt, überlegt sie angesichts der Nachrichten über die hereinbrechende Gewalt, was sie Sinnvolles zur Verteidigung ihres Landes, der Menschen und der Kultur beitragen könne. Als Schriftstellerin fragt sie sich, "ob das geschriebene Wort auch dafür da sein könnte, schneller Gerechtigkeit herbeizuführen"? Ihre Antwort ist das vorliegende Buch, in dem sie Frauen porträtiert, von Reisen an zunächst von der russischen Armee besetzte Orte berichtet und die dortigen Kriegsverbrechen dokumentiert, völkerrechtliche Möglichkeiten der Ahndung reflektiert und nicht zuletzt Bögen in die ukrainische Geschichte von Vernichtung und Widerstand im 20. Jahrhundert schlägt. Wege zu suchen und zu finden, um angesichts der von der russischen Armee massenhaft verübten Verbrechen Gerechtigkeit herzustellen, ist Amelinas Antriebskraft und das zentrale Anliegen des Buches.
Auf dieser Suche wird die Autorin von vielen zivilgesellschaftlich aktiven Frauen begleitet, die sie porträtiert, so unter anderen von der Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk aus Kiew, der Kulturaktivistin und Frau des ermordeten Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko Iryna Nowizka aus Lemberg, der Sachbuchautorin Wira Kuryko aus Tschernihiw und der Hüterin der Schätze des Literaturmuseums Charkiw, Tetjana Pylyptschuk. Detail- und ereignisreich beschreibt Amelina den Einsatz der Protagonistinnen für die Entwicklung und den Erhalt einer lebendigen, vielgestaltigen Gesellschaft in der Ukraine, sei es durch die Organisation von Hilfstransporten, Minenräumung, die Evakuierung von Museumsexponaten oder die Begleitung von Traumatisierten. Sie erzählt von gemeinsamen Unternehmungen und gewährt Einblick in die Facetten enger Freundschaften. So entsteht das Bild eines dynamischen und resilienten Netzwerks aktiver Frauen mit sehr persönlichen Einsichten in die Lebensumstände während des Krieges, in denen Tod und Gewalt, aber auch gegenseitige Stärkung und Selbstwirksamkeit zur täglichen Erfahrung gehören.
Victoria Amelina reiste für die Menschenrechtsorganisation Truth Hounds von März 2022 bis Juni 2023 an die Orte, an denen die russische Armee Kriegsverbrechen verübt hatte, und führte Interviews mit Betroffenen und Augenzeugen. Einige der Berichte sind Teil der Reportage. Die Schilderungen konfrontieren die Lesenden auf das Grausamste mit den Folgen der russischen Invasion und sind zutiefst erschütternd, handelt es sich doch um teils minutiöse Beschreibungen von Tötungen, Nötigungen und Folter, wie sie etwa Oleksandr Charlaz erlitten hat, der festgenommen wurde, weil sein Sohn in der Armee diente. Er berichtet: "Sie gaben mir einen Draht in die Hand und sagten: 'Wenn du ihn fallen lässt, schlagen wir dich.' Und dann kam ein weiterer Elektroschock. Der Draht fiel runter, klar, und ich wurde mit einem Stock auf die Brust geschlagen. Sie wickelten den Draht um meine Hand, sodass ich ihn nicht fallen lassen konnte. Sie verpassten mir einen Elektroschock von zehn bis fünfzehn Sekunden. Sie fingen an, Fragen zu stellen ...".
Die Autorin hat die Berichte aufgenommen, um den Opfern Gehör zu verschaffen und juristische Wege zu finden, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit herzustellen. Wer heute angesichts der komplizierten militärischen und geopolitischen Lage die Abtretung der besetzten Gebiete an Russland für alternativlos hält, sollte sich vor Augen führen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in diesen Gebieten das Schicksal von Oleksandr Charlaz tausendfach teilen.
Mehrfach zieht Amelina Parallelen zwischen der Dokumentation der Kriegsverbrechen, an denen sich ukrainische Intellektuelle im heutigen Krieg beteiligen, und ähnlichen Aktivitäten, die die Autorengeneration der ukrainischen Schisdisjatnyky (Sechziger), allen voran die Malerin Alla Horska, in den 1960er- und 1970er-Jahren initiierten. Sie brachten die Massenexekutionen an der geistigen Elite der Ukraine in den 1930er-Jahren an die Öffentlichkeit, wofür viele langjährige Lagerstrafen verbüßen mussten. Die Porträts, Dokumentationen und historischen Bezüge werden ergänzt von grundsätzlichen Überlegungen zur Durchsetzbarkeit völkerrechtlicher Bestimmungen, deren Grundlage Begriffe wie Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden. Diese wurden - auch das führt Amelina aus - maßgeblich von den Juristen Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht geprägt, die beide aus Lemberg stammten.
Victoria Amelina wurde am 27. Juni 2023 bei einem Raketenangriff auf eine Pizzeria in Kramatorsk schwer verletzt und starb am 1. Juli. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie das vorliegende Buch zu etwa 60 Prozent fertiggestellt. Ihre Weggefährtinnen Tetjana Teren, Jaryna Hruscha, Sascha Dowschyk und ihr Ehemann Alex Amelin beschlossen, das Buchfragment zu veröffentlichen. Das Manuskript erscheint in der letzten Fassung, die an vielen Stellen noch nicht zu Ende ausgearbeitet war. Die Herausgeberinnen behalten den fragmentarischen Charakter des Textes bei, unvollendete Sätze sind gekennzeichnet, nicht ausformulierte Passagen erscheinen als Sammlung von Notizen, erklärungsbedürftige Ereignisse werden in Fußnoten erläutert.
"Blick auf Frauen, den Krieg im Blick" konfrontiert unmittelbar mit dem Krieg, es kostet Überwindung, das Dokumentierte aufzunehmen, und Konzentration, den Faden nicht zu verlieren, denn immer wieder reißt der Text ab.
Victoria Amelina: "Blick auf Frauen, den Krieg im Blick. Ein Tagebuch von Krieg und Gerechtigkeit". Mit einem Vorwort von Margaret Atwood. Aus dem Englischen von Steffen Beilich und Andreas Rostek. edition.fotoTAPETA, 304 Seiten
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