Mit zarter Zuversicht
Mit zarter Zuversicht
Exklusiv-Interview mit Judith Hermann
Marcel Reich-Ranicki brachte die einhellige Begeisterung perfekt auf den Punkt, die Judith Hermann 1998 mit ihrem Debüt auslöste: "Eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein." Über Nacht berühmt wurde sie mit Sommerhaus, später - nicht nur der Sound einer Generation, sondern eine neue Art des Erzählens. Seither bestätigt die 1970 geborene Berliner Autorin mit jedem Buch ihr Ausnahmetalent. Nun übertrifft sie sich mit Lettipark, 17 Meisterstücken über die besonderen Momente, in denen sich ein ganzes Leben verändert.

Die Geschichte "Lettipark" ist die Titelgeschichte, weil sie ein Motiv hat, das alle Geschichten miteinander verbinden könnte: eine gewisse zaghafte Zuversicht, eine verhaltene Stärke. Aber man muss sie nicht als Erste lesen. Die Reihenfolge der Geschichten an sich ist wichtiger, nicht zwingend, aber wichtig. Die Geschichten sollen sich aneinander anlehnen, miteinander in Verbindung stehen.
In "Lettipark" lassen Sie - wie in vielen anderen Geschichten - zunächst eine ganz alltägliche Situation lebendig werden: Rose und Paul kaufen im Supermarkt ein. Was macht für Sie den Reiz des Alltäglichen als Erzählstoff aus?
Genau das: der Reiz des Alltäglichen - das Wesentliche im scheinbar Unwesentlichen, das Extreme in den ganz kleinen Momenten, das Unerwartete, Schönheit auch, winzige Zäsuren mitten im Tag. Banales Leben - und plötzlich dann das Gegenteil davon.
Würden Sie sagen, "Lettipark" führt in ein Spannungsfeld zwischen Festhalten und Flüchtigkeit? Und wie ordnen Sie da die Liebeserklärung in Form von Fotografien ein?
Ich finde das Bild vom Spannungsfeld zwischen Festhalten und Flüchtigkeit sehr schön - es ist ziemlich genau das Spannungsfeld, in dem man sich aufhält, wenn man schreibt. Die Figuren sind davon natürlich berührt oder betroffen. Und eine Liebeserklärung in Form von Fotografien verweist auf das, was vorbei ist, und zugleich auf das, was trotzdem bleibt. Verweist auf Erinnerung, auf die Kraft der Erinnerung und auf die Wichtigkeit von Erzählen, Beschreiben, Nichtvergessen.
Dem Fotografieren kommt nicht nur in "Lettipark" Bedeutung zu, sondern auch in anderen Erzählungen. Als Fotografen sind auch Ada in "Solaris" und Philipp in "Gehirn" tätig. Was macht für Sie die Faszination des Fotografierens aus Ja, es ist so, dass ich wohl selber gerne eine Fotografin wäre. Ich würde viel lieber fotografieren als schreiben - oder besser: Ich würde sehr gerne so schreiben wie Nan Goldin fotografiert, oder William Eggleston -, Fotos, die eine Geschichte erzählen, eine ganze Geschichte durch ein einziges Foto. Oder eben umgekehrt - eine Geschichte wie ein Foto.
Sich mit Worten zu erklären, scheint nicht so sehr die Sache der Figuren in Ihren Erzählungen zu sein, oder? Woran liegt diese Zurückhaltung? Ist es nicht auch eine Art Rücksichtnahme oder Behutsamkeit im Umgang miteinander?
Diese gewisse Wortlosigkeit ist allen Figuren eigen, ja, sie ist auch schon den Figuren meiner früheren Bücher eigen. Es kann sein, dass das Sprechen nicht so ihre und auch nicht so meine Sache ist. Das ist vielleicht ein wenig paradox, weil ich an die Worte glaube, weil ich an das Schreiben glaube. Aber Schreiben und Sprechen ist eben nicht dasselbe. Ich empfinde wortlose Begegnungen manchmal als prägender, gewichtiger, nicht ohne Grund gibt es das Bild vom beredten Schweigen. Aber darüber hinaus ist es tatsächlich so, dass die Figuren im Umgang miteinander behutsam sind oder es zumindest sein wollen. Sie sind vorsichtig - mit sich selbst und mit dem anderen.
''Brief'' nimmt uns mit in die Welt betagter Menschen, die im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren ihren Platz im Leben gefunden zu haben scheinen. Edna ist 86 und blättert selbstvergessen in ihrer Pflanzen-Enzyklopädie. Wie kommt es, dass sie so in sich ruht?
Ich nehme an, dass es im Alter eine ganz andere Gewichtung gibt als in den jungen, dann den mittleren Jahren. Angesichts der schwindenen Zeit ist man vielleicht einverstandener mit vielem? Die Kämpfe hören auf, die Zuwendung zur Gegenwart kann deutlicher sein. Man ist gelassener - so könnte es sein, ich bin mir natürlich nicht sicher. Ednas Ruhe ist eine Art von Hinwendung ans Gegenwärtige, von Zufriedenheit mit dem, was ist.
Was symbolisiert Nantucket für Edna und Walter? Welche Zuversicht ist damit verbunden
Die Zuversicht, Zeit zu haben. Eine Zukunft zu haben, Vorstellungen, Träume. Edna und Walter bauen sich ein Haus - ein Haus für die kommenden Jahre. Dass diese kommenden Jahre gezählt sind, spielt offenbar gar keine Rolle. Auch die Jahre des Gastes, der von seinem Besuch bei Walter und Edna erzählt, sind begrenzt. Für mich - und für die Figuren - ist deshalb dieser eine Tag, den die drei Figuren auf Nantucket verbringen, so kostbar.
In ''Träume'' konsultieren zwei Freundinnen einen Psychoanalytiker namens Dr. Gupta. Dann und wann scheint er geheimnisvolle Hinweise zu geben - in Form von Büchern, die er auf seinem Schreibtisch platziert. Sind das auch Hinweise oder sogar Empfehlungen von Ihnen an Ihre Leser?
Ich freue mich, dass Sie diese Bücher auf Doktor Guptas Schreibtisch als Hinweise nehmen wollen. Teresa tut das auch - sie meint, es wären Fährten, die für sie gelegt werden. So ähnlich soll es dem Leser gehen ... Ich liebe Iwan Bunin! Und ich denke, ich sollte mit diesen Dingen so umgehen, wie es die Geschichten tun. Verschwiegen sein?
Sie schreiben, dass Dr. Gupta Fragen vorzugsweise offen lässt - als würde er bezweifeln, dass es gültige Antworten gibt. Inwiefern entspricht das auch Ihrer eigenen Erzählhaltung?
Ich halte es mit Doktor Gupta, ja. Ich glaube nicht, dass es eine letztgültige, endgültige Antwort gibt. Ich glaube, dass sich die Dinge immer wieder verschieben, bis zum Ende hin immer wieder ändern können. Ich erkläre nicht alles bis ins letzte Detail, weil ich dieses letzte Detail gar nicht kenne. Ich möchte Raum lassen zwischen den Zeilen, Leerstellen lassen, Fragen offen lassen.
Die ersten Ideenfunken zu Ihren Geschichten bezeichnen Sie als ''Initiationsmomente''. Was meinen Sie damit genau?
Ein Initiationsmoment ist wohl am ehesten ein Satz - ein Satz, den jemand zu jemand anderem sagt. Und ich höre diesen Satz und habe das Gefühl, der Satz hätte einen doppelten Boden, eine zweite Bedeutung, eine versteckte Botschaft: Hinter dem Satz oder unter dem Satz taucht ein anderer Satz auf, und dann vielleicht noch ein dritter und ein weiterer und noch einer. Und damit verbunden gibt es das plötzliche und heftige Bedürfnis, eine Geschichte zu haben, in der eine Figur diesen Satz zu einer anderen Figur sagen kann. Das Bedürfnis, den Satz aufzuheben. Ihn zu zeigen, auch.
Bei welcher Geschichte aus Ihrem neuen Buch erinnern Sie sich noch besonders genau an den Initiationsmoment?
Ich erinnere mich bei jeder einzelnen Geschichte an den Initiationsmoment. Man vergisst das nie. Aber ich möchte ihn auf jeden Fall für mich behalten! Und würde Sie viel lieber umgekehrt fragen - was könnte der Initiationsmoment für die Geschichte ''Brief'' für Sie gewesen sein? Und wenn das zum Beispiel der Moment ist, in dem Walter zu dem Ich-Erzähler sagt, Nantucket hieße in der Sprache der Indianer ''Das weit entfernte Land'', dann ist genau das der Initiationsmoment für diese Geschichte gewesen - Sie dürfen sich das aussuchen.

Das Buch zum Interview
Das Buch zum Interview
Lettipark
Ein Blick nur, eine kleine Geste, ein Satz oder versäumte Worte - Momente, die ein Leben ändern: Solchen Schlüsselmomenten im alltäglichen Leben spürt Judith Hermann in ihren 17 neuen Erzählungen nach. Puristische Glanzstücke über Dramen von existenzieller Wucht, in denen Hoffnungsfunken aufscheinen.