"Eine kurze Geschichte von sieben Morden" von Marlon James mag beim Lesen der ersten Abschnitte und Unterkapitel als ungemein brutales Gangster-Epos erscheinen, fast als sinnloses Gemetzel und Mörderballade um ihrer selbst willen. Mir jedenfalls hat die Gewalt, die Brutalität und die Verrohung einzelner Charaktere (z.B. Josey Wales oder Weeper) anfangs ziemlich auf den Bauch geschlagen - bis ich die wahren Personen recherchierte, die als Vorbild für James' Charaktere dienten, und rasch herausfand, dass jene Epoche in der jamaikanischen Geschichte tatsächlich von hunderten Gangmorden und politischen Hinrichtungen, Erpressung, Terror an der Zivilbevölkerung etc. geprägt war (eine Entwicklung, die sich in leicht abgeschwächter Form bis heute fortsetzt). Von diesem Punkt an las ich das Buch durch eine andere Brille, mehr als Gesellschafts- und weniger als Gangsterroman. Besonders spannend und eklatant waren für mich die Verflechtungen der USA/CIA in Jamaika, die wie in vielen anderen Ländern ihre Interessen mit zwielichtigen und brutalen Mitteln durchzusetzen versuchte und Politiker, Gangs und Journalisten instrumentalisierte.James taucht dabei voll in seine Charaktere ein, indem er ihnen ausgiebig Raum und Zeit gibt, um ihre Weltsicht, ihre Motive und ihre Geschichten zu erzählen - so kaputt und moralisch degeneriert sie auch sein mögen -, von den Gang-Dons und Handlangern über Journalisten, Politiker und CIA-Agenten bis hin zu Nina, die im Verlaufe der Jahrzehnte umspannenden Erzählung gezwungenermaßen mehrere Identitäten annehmen muss, und diese polyfone Subjektivität, wenn man so will, die aufeinandertrifft, schafft ein ungemein dichtes, chaotisches, breites und komplexes Bild einer Gesellschaft, die von der Politik und den Gangs zersetzt wird. Und mittendrin steht der Sänger, der diese maroden Strukturen mit Musik und Rastafari aufzuweichen, eine bessere Welt zu schaffen versucht. Dabei ist der Mordversuch am Sänger zwar der Aufhänger der Geschichte, im Grunde aber lediglich der Anstoß für weitschweifige Entwicklungen und Verstrickungen, die weit über die Motive des Attentats hinausreichen.Was besonders beeindruckt, ist, wie James es erreicht, jedem Charakter seine eigene, authentische Stimme zu verleihen - eine große literarische Leistung. Dasselbe gilt auch für die Montage der Sequenzen und Kapitel: Sie erzählen ausschweifend und detailreich (und manchmal auch geschwätzig), lassen aber trotzdem Freiräume und Lücken offen, die man sich selbst erklären muss. James erzählt dabei viel über die Dialoge, die oftmals ausufern (und ihm neben der Gewalt auch schon einen Vergleich mit Quentin Tarantino eingebracht haben), und auch wenn man die Gespräche vermutlich etwas hätte kürzen können, fand ich, dass sie viel zur Atmosphäre des Romans und der Ausgestaltung der Charaktere beitragen (besonders in Erinnerung geblieben ist mir das letzte Gespräch von Gang-Don Josey Wales mit dem Auftragsmörder in der Zelle: selten habe ich ein so intensives, suggestives, manipulatives und spannendes Gespräch gelesen). Nicht zuletzt ist der Roman für mich herausragend, weil er die politische Komponente der Geschichten nicht an den Rand stellt, sondern sie in jede Erzählstimme einfließen lässt und den Text so auch zu einem subtilen Kommentar über Imperialismus und seine Folgen für die zweckmissbrauchten Länder macht. Alles in allem liegt hier ein Roman vor, der eigenwillig daherkommt und in seiner Breite und Tiefe durchaus als größenwahnsinnig bezeichnet werden kann. Meiner Meinung nach ist dies im vorliegenden Fall ein Gütesiegel, denn James versteht es meisterhaft, die Fäden seiner Geschichte in der Hand zu halten und sie am Ende zu einem stimmigen Gesamtwerk zu verweben. Wer auf epische Literatur mit Anspruch steht und dazu Geschichtsinteresse mitbringt, der wird hier voll bedient.