Wo überall sitzt die Menschenfeindlichkeit?
Ein Mädchen steht vor der Schwimmlehrerin und bettelt, endlich in die Fortgeschrittenengruppe zu dürfen. Dabei kann sie nur am Beckenrand ohne Leine gut schwimmen. Die Lehrerin ist gnadenlos, das Mädchen verzweifelt.
Dreißig Jahre später ist Heike Geißler erwachsen und noch immer verzweifelt - aber entschlossen, sich diesem Gefühl zu stellen: Wo ist der Fehler - in Geschlechterrollen, Heroismus, Militarisierung? Was fehlt? Wo sitzt die Menschenfeindlichkeit noch überall? Im Sprechen, im politischen Handeln. In den Landesparlamenten, nicht nur in Ostdeutschland. Sie wehrt sich gegen Rechtsextremismus, feindselige Strukturen und unaushaltbare Verhältnisse. Und übt einen neuen Ansatz, einen anderen Blick. Um daraus Trost und Mut zu schöpfen.
Besprechung vom 19.04.2025
Unter dem Druck der Verhältnisse
Arbeit an der Verzweiflung: In zwei neuen Büchern fühlt die Schriftstellerin Heike Geißler sich und unserer Gegenwart den flackernden Puls.
Wen hat dieses Gefühl in den letzten drei, fünf, zehn Jahren nicht gestreift? Wer hätte sich angesichts einer irrsinnig gewordenen Welt nicht ein ums andere Mal, wie es so schön heißt, an den Rand der Verzweiflung getrieben gesehen? Wer wäre, wie Heike Geißler, nicht am liebsten zu Boden gegangen und hätte angefangen zu winseln, weil die Nachrichten von gefolterten Kindern, zerrissenen Körpern und Menschen, die auf solche Nachrichten mit Gleichgültigkeit, wenn nicht Hohn und Verachtung reagieren, einfach zu viel wurden?
"Und ich lebe noch nicht einmal in einem Kriegsgebiet, ich lebe nur mit den generationenumspannenden Folgen von autoritärer Erziehung, autoritärer Regierung, Wunden, Schäden, Angst", schreibt die in Riesa geborene und in Leipzig lebende Autorin in ihrem Essay "Verzweiflungen", der das gleichnamige Gefühl, daher der Plural, aus unterschiedlichsten Perspektiven umkreist. Das Private ist hier politisch, das Allgemeine manifestiert sich im Konkreten. Das beginnt mit dem Aufwachsen in einem Staat, der seine Bürger in Geiselhaft hielt: "An diesen Druck erinnere ich mich", zitiert Geißler den Schriftsteller und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, "dieses Ausgesetzt-, Ausgeliefert-Sein. Es ist meine Hauptanklage bis heute: Daß so viel Druck und Angst gemacht wurde bei geschlossenen Grenzen!"
Anlass genug zur Verzweiflung bietet dabei schon der schnöde Alltag, der stete Kampf gegen die Unordnung und Vermüllung der eigenen vier Wände, das Großziehen von Kindern in viel zu klammen finanziellen Verhältnissen und der Druck unserer auf Selbstoptimierung ausgelegten Gesellschaft, die eigene Erschöpfung und Müdigkeit noch produktiv umzumünzen, die Verzweiflung originell zu verwerten und zu einem Produkt zu machen, einem Konsumbedürfnis: "Und das Problem ist, dass ich von mir erwarte, das jetzt irgendwie interessanter zu sagen. Spezieller. So dass es wie eine Neuigkeit klingt."
Wie sehr das eigene kleine Leben eingebettet ist in gesellschaftliche Strukturen, zeigt die Passage, in der Heike Geißler davon berichtet, mit vierzig Jahren geglaubt zu haben, unvergewaltigt durchs Leben zu kommen. Was dann leider nicht eintraf. Sie erwähnt das Kleid, in dem sie vergewaltigt wurde, dass sie es seitdem nicht mehr tragen kann, es aber auch nicht wegwerfen möchte, weil dieser Akt der Vergewaltigung noch mehr Bedeutung zumessen würde. Sie spricht davon, dass sie die Stadt, in der es passiert ist, nicht mehr betreten kann. Und sie erwähnt vierzig Seiten später, nachdem es scheinbar längst um ganz andere Dinge ging, dass sie auf dem Handy von einem ihrer Söhne eine Nachricht von Andrew Tate gefunden, jenem Männlichkeits-Influencer, der Frauen nur als "Weibchen" bezeichnet und ihnen den Status von Tieren zuschreibt, der wegen Menschenhandel und Vergewaltigung in Rumänien unter Anklage stand und von der Trump-Administration in einer Nacht-und- Nebel-Aktion in den sicheren Hafen weißer heteronormativer Männlichkeit gebracht wurde.
Es sind diese Strukturen, die sie zerreiben, die auch ihren Mann und so viele Millionen anderer Menschen zerreiben. Und dazu noch PEGIDA, Corona, Putin: "Fast ein Jahrzehnt Erwartung, Verarbeitung und Lektüre zeitgenössischer Katastrophen. Und nun bald ein Jubiläum dornenbesetzt. All die widerborstigen Ereignisse. All die Geschehnisse, die sich einer zuversichtlichen Erzählweise widersetzen."
Wenn dem tatsächlich so ist, wie gelingt es Heike Geißler dann, einen Essay zu schreiben, der in seiner Meisterschaft, literarisches Schreiben mit gesellschaftlicher Analyse zu verbinden, an die großen Essays von Joan Didion erinnert? Man muss an Penthos denken, jenen Dämon, der, weil er zu spät kam, als die Aufgaben von Zeus verteilt wurden, zwar die unliebsamen Gefühle wie Verzweiflung und Trauer aufgebürdet bekam, in der Ilias aber an der Seite von Lyssa und Mania kämpfen darf, der Wut und dem Wahnsinn.
Auch in "Verzweiflungen" macht Geißler die Wut zu ihrer Verbündeten. Wirft die Verzweiflung sie zuweilen auch winselnd zu Boden, so ist ihr gesamtes Nachdenken über den Einzelnen und das große Ganze unserer Gegenwart doch von einem bissigen Trotz geprägt. "Verzweiflung mitschreiben, Verzweiflung fixieren, Verzweiflung auf- und niederschreiben. Verzweiflung niederringen", heißt es gleich zu Anfang dieses so einsichtsvollen, mitreißenden, tröstlichen Buchs. Für die Autorin wie für ihre Leser ist "Verzweiflungen" eine "Rettungsmaßnahme", nicht formschön, "nicht dezent", sondern laut und widerspenstig. Und von interessanter Gestalt: Mal in kristallklarer Prosa, mal in litaneihaften Listen, mal aphoristisch wird die Verzweiflung von unterschiedlichsten Seiten beleuchtet, werden unerwartet Querverbindungen gezogen.
Als Begleittext zu "Verzweiflungen" kann man Geißlers zeitgleich in einem anderen Verlag erschienenes Buch zum Thema "Arbeiten" lesen. Auch in diesem Essay spielt ihre Herkunft eine Rolle, die werktätigen Eltern, die das Kind zu einem Schlüsselkind machten, einem Kind, das früh schon jene Einsamkeit und Ängste erfahren musste, die die erwachsene Frau auch später in einem anderen Staat und einem anderen Wirtschaftssystem erlebt.
Zwanzig Jahre Betriebszugehörigkeit, ruft die freie Schriftstellerin Heike Geißler in "Verzweiflungen" aus, und zwanzig Jahre lang muss sie immer wieder wie von vorn beginnen. Aber auch in "Arbeiten" schlägt das Pendel nicht in Richtung Depression oder Wahnsinn aus. Wenn nicht Wut, so ist es hier mindestens der Mut der Verzweiflung, der die Autorin ihre Arbeit, ihre Aufgabe eben darin erkennen lässt, "auf alle Verunsicherungen mit einer Denk- und Körperhaltung zu reagieren, die es mir ermöglicht, ein Gleichgewicht zu finden. Meine Arbeit ist es, den Platz vor meinem Fenster zu beobachten. Meine Arbeit ist es, nicht in zu viele Konsumfallen zu tappen. Meine Arbeit ist es, mich nicht durch Einzelfälle ablenken zu lassen und dennoch so viele Einzelne wie nur möglich zu sehen." Man schaut ihr bei dieser Arbeit gebannt zu. Wie sie uns zuschaut. TOBIAS LEHMKUHL
Heike Geißler:
"Verzweiflungen". Essay.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2025.
221 S., br., 18,- Euro.
Heike Geißler: "Arbeiten".
Hanser Berlin Verlag,
Berlin 2025.
128 S., geb.
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