Isor ist ein besonderes Kind. Sie spricht nicht, lernt nicht, lebt in stummen Gedanken und tobenden Wutausbrüchen und treibt mit ihrer haltlosen Impulsivität und Unruhe ihre Eltern in die Verzweiflung.Ich war nicht dafür gemacht, der Vater eines solchen Kindes zu sein.Doch dann tritt Lucien in ihr Leben, ein älterer Herr und Nachbar der Familie und Isor, nun ein 13jähriges Mädchen, findet in ihm jenen Menschen, der sie aus ihrer Isolation herauszuholen vermag.Meine persönlichen Leseeindrücke"Hunger und Zorn" ist ein ungewöhnliches Buch. Es erzählt von einem besonderen Menschen und ist nicht mein erstes Buch dieser Art. Die Franzosen müssen ein bestimmtes Gespür für Familiengeschichten mit besonderen Kindern haben. Ich denke da an den Roman "Brüderchen" von Clara Dupont-Monod, deshalb kommt mir der Stil und auch der Inhalt nicht ganz so neu vor.Der Roman, in nur 3 Kapiteln unterteilt, bietet durchaus interessante Gedanken und Anregungen zum Umgang mit besonderen Kindern und deren Familien. Zum einen ermöglicht das Buch einen Blick auf eine Familie, die durch die Tochter von einem gewohnten, genormten Leben weggehen und dabei neue emotionale Fähigkeiten entwickelt muss und zum anderen fokussiert es die Entwicklung von Isor, die sich von einer anstrengenden, rücksichtslosen Tochter in eine eigenständige junge Frau verwandelt. Ich liebe deine fast unmenschliche Fähigkeit, schonungslos glücklich zu sein, ohne Rücksicht auf Verluste. Einfach nur schonungslos glücklich.Das 1. Kapitel, das mir am besten gefallen hat, betört durch einen Zweiklang von Mutter und Vater, die über ihre Tochter erzählen. Diese Liebe, die zu Beginn und auch zwischendurch von Angst gezeichnet ist, verlangt von den Eltern ein Hinaus- und Hineinwachsen in andere Zuneigungsformen. Sehr liebevoll finde ich die Aussagen beider Elternteile, auch wenn mit etwas Trauer durchflochten, weil ein besonderes Kind auch eine besondere Herausforderung bedeutet und das Leben nicht einfach ist.Mit dem 2. Kapitel hingegen beginne ich mich von der Geschichte zu entfernen. Der Fokus verschiebt sich von den Eltern weg und auf Lucien zu, dem älteren Nachbarn, zu dem Isor eine besondere Verbindung aufbaut. Doch ist manch erzählte Episode zweideutig und es dauert, bis ich Luciens Harmlosigkeit verstehe. Er erfüllt die Rolle des richtigen Spielpartners und des verständnisvollen Großvaters, der die heranwachsende Isor gleichzeitig beruhigen und emotional berühren kann. Was den Eltern verwehrt bleibt, schafft Lucien mit Leichtigkeit. Der große Knall kommt aber im letzten Kapitel und ich verschweige nicht, dass ich mich überrumpelt fühle. Normalerweise urteile ich nicht nach glaubwürdig oder nicht. Dafür ist ein Roman Fiktion, aber hier komme ich an meine Grenzen. Denn die wundersame Wandlung des eigenartigen Mädchens, das weder sprechen noch lesen oder schreiben, ja sich weiß Gott kaum artikulieren kann, in eine junge Frau, die es von Paris alleine nach Sizilien schafft und ihren Eltern Briefchen schickt, entbehrt einiger Logik. Es kann schon sein, dass Isor überdurchschnittlich intelligent ist und dadurch sprechen, lesen, schreiben, mit Geld umgehen, einkaufen, reisen, etc. intuitiv gelernt hat, nur hätte die Autorin dazu kleine Andeutungen geben können. Davon steht aber nichts geschrieben und ich muss mir Rätselhaftes zusammenreimen. Da kann ich die Augen noch so fest zudrücken und mich durch Isors Schreibklang in eine andere Welt entführen lasse, diese Defizite kann ich nur schwer überwinden.FazitMit "Hunger und Zorn" biete Alice Renard einen Blick auf ein besonderes Mädchen, das sich von einer stummen, tobenden und impulsiven Tochter in eine junge, selbstständige Frau entwickelt. Trotz der Einzigartigkeit der Romanfigur und dem anmutenden Schreibklang lässt mich die Lektüre etwas unschlüssig und unbefriedigt zurück. Ich war nicht bereit, der wundersamen Träumerei zu folgen.