Ein Buch über Erinnerungen und Andenken, über das Erwachsenwerden und das komplizierte Finden der eigenen Träume. Eines mag ich vorweg nehmen: Vielleicht war es ganz gut so, dass ich weder dem Titel noch dem Klappentext große Beachtung geschenkt habe. "Kleine Wunder um Mitternacht" hat mich verzaubert - und das hat den Ausschlag für meinen zweiten Higashino gegeben. Wenn ich genau darüber nachdenke, wird eigentlich im Titel schon zu viel verraten. Reiko begeht eine Dummheit - um nicht im Gefängnis zu landen, geht er auf den Vorschlag seiner mysteriösen Tante ein, Schreinwächter zu werden und die Besuche beim Kampferbaum zu überwachen. Zunächst ist Reiko nicht so glücklich über seinen neuen Job - bis er mehr über die Menschen erfährt, die Andacht im Kampferbaum halten. Es ist ein leises Buch, mit einem mystischen Element, um das sich die Charaktere sammeln und wie das Netz einer Spinne verweben. Die Art, wie Higashino seine Geschichte aufbaut, kann ich in "Kleine Wunder um Mitternacht" wiederfinden. Junge Protagonisten, die auf die schiefe Bahn geraten und plötzlich und unverhofft in einen neuen Sinn hineingestoßen werden, ganz egal was sie davon halten. Ich persönlich mag Higashinos Protagonisten - und Reiko ist ein streitbarer junger Erwachsener, dessen einfache Herkunft sich auch in seiner Sprache niederschlägt und in seiner Haltung zu Anfang des Buches. Er ist kein Charakter, den ich auf Anhieb liebte und dessen Haltung ich in manchen Situationen kaum nachvollziehen konnte. Trotzdem war er spannend, gerade wegen seinem inneren Zwiespalt und seinem Entwicklungspotential. Ihm gegenüber hat Higashino Chifume, die Halbschwester seiner verstorbenen Mutter gesetzt, die welterfahren und wortgewandt ist. Eine spannende Mischung. Die Geschichte wird aus Reikos Perspektive erzählt - ich habe seine Unzufriedenheit und sein Straucheln oft gespürt. Das Buch schlägt ein langsames Tempo an und erzählt mit leisen Tönen vom Alltag, vom Schreinleben, vom ständigen Fegen und von den mitternächtlichen Andachten, zu denen die verschiedensten Menschen kommen. Reiko ist faktisch gezwungen sich mit den Sichtweisen auseinanderzusetzen und andere Perspektiven einzunehmen. Und ich habe gesehen, wie er daran gewachsen ist, wie er Mut gefasst hat und einen anderen Blick auf sein eigenes Leben gewonnen hat. Wie Beziehungen sich vertieften - und das ist es eigentlich, was das Buch für mich so reich gemacht hat. Ganz nebenbei werden solche Themen wie die harte Geschäfts- und Immobilienwelt in Japan aufgegriffen, der Umgang mit unehelicher Geburt oder ähnliches. Die einzige kleine Kritik, mir störend aufgefallen ist, ist, dass Higashino bisweilen in einen Erzählmodus fällt, in dem er die Geschichte einer Figur über mehrere Seiten ausbreitet. Das war mir dann schon ein bisschen viel Info-Dump. Eine Geschichte, die mich berührt hat.