»Warum vertrauen wir Fotografien, wenn es um Identität geht? «, fragt Bernd Stiegler angesichts einer allseits beklagten Flut von Bildern, die noch dazu leicht zu manipulieren oder gar per KI herzustellen sind. Weil offenbar Identität nicht ohne ihre mediale Beglaubigung zu haben ist. Fragt man nach dem bildpolitischen Zusammenhang von Identität und Medien, so geraten rasch die kommerziellen Angebote des Metaverse wie auch das aggressive Auftreten der Neuen Rechten in den Social Media-Kanälen in den Blick, die sich als Kampfzone von Identität erweisen.
Heute sehen wir uns konfrontiert mit der doppelten Anforderung, einerseits den Standards und Formaten der digitalen Plattformen zu entsprechen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, andererseits zugleich als einzigartig herauszustechen. Diese Pole von Typisierung und Individualisierung sind vorgezeichnet in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, wenn Verfahren wie die Bertillonage die fotografische Erfassung von »Straftätern« standardisieren und das Überblenden einzelner Fotos »Typen« kreiert, die Vorstellungen von »Rasse« und »Wesen« veranschaulichen sollen. Zugleich findet sich mit dem Aufkommen der Carte de Visite-Fotos, die eine bis dahin ungekannte Verfügung über das eigene Auftreten und Rollenspiel möglich machen, ein spielerischer Umgang mit dem eigenen Bild. Dem steht gegenüber die neurechte Fixierung auf Identität, die an Bilder ankoppelt, die aus der Geschichte nur zu vertraut sind. Bernd Stiegler führt auf prägnante Weise die Konflikte und Versprechen vor Augen, die Bildpolitik heute regieren.
Besprechung vom 31.01.2025
Typen und Rollen
Bernd Stiegler über fotografische Bildpolitik
Längst schon ist nicht jedes Gesicht, dem wir im Internet begegnen, das einer realen Person. Mittels KI-basierter Zufallsgeneratoren lassen sich ohne Vorkenntnisse in wenigen Sekunden fotorealistische Porträts erstellen. Das Zeitalter der technischen Simulierbarkeit unterhöhlt jedoch nicht nur unser Vertrauen in die Authentizität einzelner Bilder. Es erinnert vielmehr daran, dass Fotografien seit jeher kulturelle Zeichen sind, die gelesen sein wollen. Das gilt nicht zuletzt für jene Bilder, die vorgeben, die Identität einer Gruppe oder eines Einzelnen zu repräsentieren.
Sie bezeichnet der Konstanzer Literaturwissenschaftler und Fotografiehistoriker Bernd Stiegler, auch regelmäßiger Beiträger in dieser Zeitung, als "soziale Medien der Identität". Und das schon vor allen sozialen Netzwerken und virtuellen Welten. In einem schmalen, konzentrierten Band geht Stiegler der Frage nach, auf welche Weise verschiedene Formen der historischen und zeitgenössischen Porträt- und Personenfotografie an der Herstellung sozialer Identität beteiligt sind. Anhand zahlreicher Beispiele diskutiert er die drei idealtypischen gesellschaftlichen Aufgabenfelder der Fotografie seit ihren Anfängen: die Feststellung von Identität, die Konstruktion von Typen und die Profilierung des um Distinktion bedachten Einzelnen.
Bereits die ersten Daguerrotypien werden in Asylen, Polizeirevieren, Kliniken und Psychiatrien zur Erstellung von Krankenakten und Steckbriefen verwendet. Solche Bilder machen Individuen aktenkundig und erlauben zugleich die Abstraktion vom Einzelfall, der nunmehr zum Beispiel eines zu visualisierenden Typus mit bestimmten übertragbaren Merkmalen wird. Diese beiden Tendenzen der Porträtfotografie haben im späten neunzehnten Jahrhundert jeweils ihren Vollender gefunden.
So basiert das vom französischen Kriminalisten Alphonse Bertillon entwickelte Verfahren der anthropometrischen Personenidentifizierung zunächst auf der Kombination bestimmter Körpermaße, wird jedoch von ihm bald um die noch heute übliche Porträt- und Profilaufnahme nach der Verhaftung ergänzt. Der Brite Francis Galton, ein Cousin Charles Darwins, kreiert dagegen mit der Kompositfotografie ein Verfahren zur Visualisierung statistischer Mittelwerte: Durch Mehrfachbelichtung lassen sich aus einer beliebigen Zahl in ähnlicher Weise aufgenommener Porträts schemenhafte Darstellungen vermeintlicher Typen gewinnen. Eine Methode, die auch in die frühe, am Rassebegriff orientierte Ethnologie Einzug hält und deren ideologische Implikationen für Stiegler auf der Hand liegen: Stets tritt das Individuum hinter ein Allgemeines zurück.
Anders sieht es in den Fotoateliers derselben Epoche aus. Es sind Orte der Selbstdarstellung und des Rollenspiels; schon die Wahl des Studios ist ein Akt sozialer Distinktion, markiert politische Präferenzen und Klassenzugehörigkeit: Die Royalisten zieht es zu Disdéri, die Boheme bevorzugt Nadar. Das Format der Carte-de-visite-Aufnahmen lässt diese Bilder in der Gesellschaft zirkulieren, und eine damalige Pariser Berühmtheit wie die Contessa di Castiglione, die sich in immer neuen Posen und Verkleidungen ablichten lässt, spielt mit den vorgegebenen Bildtypen und ihren Erwartungshorizonten so souverän wie heutige Influencer mit ihren Hashtags. Damals wie heute geht es im Kampf um das rare Gut der Anerkennung darum, konform und doch besonders zu sein.
Vor diesem Hintergrund versucht sich Stiegler an einer Analyse gegenwärtiger bildpolitischer Strategien. Dass Mark Zuckerbergs Metaverse mit seinem Versprechen pluraler Identitäten zuletzt nur dem gewohnten Geschäftsmodell folgt, Daten als Rohstoffe zu behandeln, ist allerdings wenig überraschend. Das gilt auch für die Feststellung, dass sich der "Imaginationsraum rechter Bildpolitik" auf den heutigen sozialen Netzwerken aus altbekannten Bildbeständen speist, die mit Vorliebe blonde Mädchen, heroisch dreinblickende Männergesichter und das Dickicht des deutschen Waldes zeigen.
Seine These, der Internetauftritt der Neuen Rechten sei ikonophil, weil er auf die Suggestionskraft von Bildern setzt, der der Linken dagegen ikonophob, weil die sich des Dilemmas bewusst seien, partikulare Identitäten durch typisierende Bilder zu repräsentieren, hätte Stiegler wohl anhand einer breiteren Materialbasis diskutieren müssen. Aber das war auch nicht das Ziel dieses kurzweiligen, leichtfüßig geschriebenen Essays. Leider sind die zahlreichen Illustrationen zuweilen so winzig und dunkel, dass sie sich nur erahnen lassen. Etwas mehr Ikonophilie seitens des Verlages hätte hier gutgetan. MAXIMILIAN GILLESSEN
Bernd Stiegler: "Bildpolitiken der Identität". Von Portraitfotografien bis zu rechten Netzwerken.
August Verlag, Berlin 2024.
144 S., Abb., br.
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