Ein meisterhafter Roman über Familie, Identität und die Bruchstücke des Lebens in heutiger Zeit.
"Ungeheuer fesselnd, handwerklich grandios und verblüffend. Ein Wunder der Erzählkunst." NRC Handelsblad
Ludwig Smit, Stiefbruder eines genialen, aber wunderlichen Klavier- und Beethoven-Virtuosen, dessen Vater Otmar auch ihn großgezogen hat, reist als Shell-Angestellter auf die sibirische Insel Sachalin, um dort den Geschäftsführer der Firma Sakhalin Energy zu treffen. Dabei kommt ihm der Verdacht, dass dieser Johan Tromp sein leiblicher Vater ist, der ihn schon im Stich gelassen hat, als er noch gar nicht geboren war. In einem Schneesturm begegnet Ludwig völlig unverhofft einer früheren Mitbewohnerin wieder, der Journalistin Isabelle Orthel, die mit Tromp vor Jahren in Nigeria eine Affäre hatte. Isabelle verfolgt nun den Plan, Tromps dunkle Machenschaften ans Licht zu zerren. Bislang kam der Hedonist und Alpha-Mann immer einfach so davon.
Nach seinem fulminanten Roman Bonita Avenue, von der ZEIT als "große europäische Kunst" gefeiert, schreibt Peter Buwalda nun also weiter an seinem stilistisch meisterhaften literarischen Universum. In Otmars Söhne geht es wieder um Familie, abwesende Väter und Stiefväter, Identität und Verantwortung, persönliche Versäumnisse, Sexualität und Schuld - das unübersichtlich gewordene Leben in heutiger Zeit.
Besprechung vom 06.07.2021
Vater, warum hast du mich verlassen?
Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne"
Sein Debüt "Bonita Avenue" (deutsch 2013) war ein großer Erfolg. Hier schrieb einer über viele hundert Seiten mit unglaublichem Furor über die Verwicklungen und Abgründe einer zerborstenen Familie. Der flämische Autor Peter Buwalda, geboren 1971, ringt bis heute mit dieser Thematik. 2019 erschien in den Niederlanden der erste Teil seines als Trilogie angelegten Romans "Otmars Söhne", wiederum über sechshundert Seiten stark und nun auch ins Deutsche übertragen. Gleich im einleitenden Satz heißt es: "Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun; Dolf sucht nichts, und er vermisst auch nichts, als in ihrer Wohnung in der Geresstraat ein Mann auftaucht, zu dem er noch im selben Jahr ,Papa' sagt, obwohl er doch bereits ein zehnjähriger Junge ist." Das ist gelogen, denn im Verlauf der Handlung schält sich immer stärker der Wunsch des nunmehr Erwachsenen heraus, den leiblichen Vater, der die Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hat, ausfindig zu machen und zu verstehen.
Aber zunächst beginnt der Roman in ruhigem Fahrwasser. Dolfs Mutter verliebt sich in Otmar, den Dirigenten in einer Musikschule, und zieht ins Haus des neuen Mannes, der dort mit einem Sohn und einer Tochter lebt. Eine Patchworkfamilie entsteht - wie so oft bei Buwalda. Das Problem: Beide Knaben tragen den Vornamen Dolf. Da Otmars Sohn als pianistisches Wunderkind bereits Aufsehen erregt hat, muss der andere Dolf seinen Namen ablegen und wird in Ludwig umbenannt. Die Geschwister bleiben ungleich: Die beiden Musikerkinder sind kleine Genies, reden altklug über Musik und leben in der Einbildung, sie wären etwas ganz Besonderes. Der neue Ludwig kann nicht mithalten, er ist ein normaler Junge ohne besondere Begabungen.
Dann macht die Geschichte einen großen Sprung. Es geht auf die sibirische Insel Sachalin, der inzwischen 35 Jahre alte Ludwig arbeitet dort als Spezialist an der Entdeckung neuer Erdölfelder. Der örtliche Chef seines niederländischen Arbeitgebers ist Johan Tromp, und verschiedene Hinweise lassen bei Ludwig den Verdacht aufkommen, dieser Mann sei sein leiblicher Vater. Nun entwickelt Buwalda seine ganze Fabulier- und Erzählkunst. Der größte Teil des Romans handelt von nur wenigen Tagen des Aufenthalts in Sachalin. Eigentlich will Ludwig zurückfliegen, aber ein Schneesturm hält ihn auf. Die Halbinsel versinkt in der weißen Hölle und Ludwig in seiner Vergangenheit. Mit Rückblenden, Zwischenblenden und Ferngesprächen Ludwigs mit seiner Ehefrau verwirrt und verirrt sich die Geschichte in turbulente Szenen.
Sexualität spielt, wie in Buwaldas Debüt, eine wichtige Rolle. Eine homosexuelle Affäre wird eingeflochten, mit Geschlechtsumwandlung. Tromp hat ehedem in Holland eine von Ludwig angebetete Frau zu seiner Sexsklavin gemacht und deren Ehe zerstört. Der vermutete Vater erweist sich in Darstellungen anderer als Sadist. Auch der Stiefbruder kommt wieder ins Spiel. Dolf soll angeblich den "verlorenen" dritten Satz der Beethoven-Klaviersonate Opus 111 gefunden haben. Ludwig erzählt davon unter dem Siegel der Verschwiegenheit einer Journalistin; die jedoch bricht das Vertrauen und beginnt sofort zu recherchieren.
Buwalda ist unersättlich in der Konstruktion emotional hoch aufgeladener Einfälle und Geschichten. Sein deutscher Übersetzer Gregor Seferens vermag ihm dabei gewandt und abwechslungsreich zu folgen. Am Ende des Romans bleiben viele Konflikte ungelöst, viele lose Fäden hängen in der Luft. Das bietet mannigfaltige Anknüpfungspunkte für die noch zu erwartenden zwei Folgeromane. Ludwig will Gewissheit, ist aber auch von Zweifeln geplagt; der Machtmensch und Erotomane Tromp - vielleicht eine Anspielung auf Donald Trump - stößt ihn ab und zieht ihn an. Buwalda erzählt dies alles nicht als psychologisches Familiendrama, sondern als großes Panorama menschlicher Absurditäten und Gewalttaten. Alle sind irgendwie beschädigt und drehen doch am Rad der persönlichen Geschichte, im Großen wie im Kleinen. Eines ist sicher: Die bürgerlich gefestigte Familie ist nicht zu retten.
LERKE VON SAALFELD
Peter Buwalda: "Otmars Söhne". Roman.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 621 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.