
Besprechung vom 18.10.2025
Das Lächeln des Dichters
John Ashberys Gedichte geben Rätsel auf, und er schafft es immer wieder, dass wir diese Rätsel lieben, auch wenn unsere Deutungswerkzeuge daran zerbrechen. Auch das Gedicht "Auf der North Farm" ist solch ein Verwirrspiel, ein unkenntlich gemachtes reimloses Sonett mit abruptem Szenenwechsel und offenem Ausgang. Da reist einer hektisch, mit unfassbarer Geschwindigkeit, reist Tag und Nacht, um jemanden zu finden, und dieser Jemand ist voll Unruhe, ob er von dem Reisenden auch gefunden wird, ob es zu einer Begegnung kommt, ob ihm das Geschenk gebracht wird, das er erwartet.
Diese Reise scheint zeitlich etwas entrückt, vielleicht wegen des erzählerischen Balladentons der ersten drei Zeilen. Ein Kenner Ashberys wies darauf hin, dass der Dichter zur Zeit der Abfassung seines Gedichts das Kalevala las und die Lektüre darauf abgefärbt habe. In der Tat reisen in dem finnischen Nationalepos ständig irgendwelche Helden in das "Nordland" und kämpfen um eine Prinzessin oder suchen den magischen Gegenstand Sampo. Doch ist Ashbery stets bedacht, der Imagination des Lesers freien Lauf zu lassen. Man könnte sich daher auch, beim Lesen der ersten Strophe, einen halb vergessenen Schwarz-Weiß-Film vorstellen, in dem Johnny Depp oder Willem Dafoe in den Norden reisen und frenetisch den Schnee von der Route fegen, einen Film von Jim Jarmusch vielleicht, den Ashbery schätzte. Das alles mag retro scheinen, doch schafft Ashbery eine Dringlichkeit, die uns mitnimmt in den Sog dieser Suche nach einem Du. Die Unruhe ist groß: Kann das Treffen gelingen?
"Auf der North Farm" eröffnet den Band "A Wave" (Eine Welle), der 1984 in New York erschienen ist. Dieser Gedichtband steht am Beginn der mittleren und ruhigeren Schaffensperiode des Dichters. Nach äußerst provokanten Anfängen ("The Tennis Court Oath", "Rivers and Mountains") hatte ihn 1975 der Band "Self-Portrait in a Convex Mirror" (Selbstporträt im Konvexen Spiegel) schlagartig bekannt gemacht. Gleich drei große Preise - Pulitzer Prize, National Book Award und National Book Critics Circle Award - heimste er ein. Doch blieben seine Gedichte auch nach diesem Grand Slam der Poesie verrätselt und spotteten weiterhin der Vorhersehbarkeit.
So überrascht die zweite Strophe von "Auf der North Farm" mit einem totalen Wechsel der Szenerie. Der Reisende scheint angekommen. Nichts wächst hier und doch gibt es alles im Überfluss. Ashbery arbeitet mit Gegensätzen: Kargheit und Fülle, Reichtum und eine Schale Milch. Was hat es mit dieser Schale Milch auf sich? Der hochästhetisierte Ashbery liebte es, Elemente der Populärkultur in seine Gedichte zu mischen. In den USA ist es immer noch Brauch, für den Weihnachtsmann eine Schüssel Milch vor die Tür zu stellen. Oft werden Karotten dazu gelegt, für die Rentiere des Santa Claus, um Mensch und Tier bei guter Laune zu halten. Diese Querverbindung zu Skandinavien, zum Kalevala mag Ashbery gefallen haben.
Es ist nicht auszuschließen, dass er auch an den Kater Tom dachte, eine zentrale Figur in den frühen US-Zeichentrickfilmen aus den Vierzigerjahren, der mit Jerry, der Maus, sich um so manche Schale Milch balgte. Ist diese Schale das Geschenk, von dem zuvor die Rede war, und reicht es, auf diese Weise manchmal an ihn zu denken, wenn man ihn schon nicht sehen, nicht treffen kann?
Ashbery erklärt nichts. Er macht uns Bildangebote. Lädt uns ein, ihm in einen Wirrwarr von Assoziationen zu folgen. Die fischreichen Bäche, die Vogelschwärme, die den Himmel verdunkeln, lassen an Walt Whitman denken, auch ferne Echos von Wallace Stevens lassen sich ausmachen. Lesen wir "Auf der North Farm", hören wir den Dichter insgeheim lächeln, weil es ihm einmal mehr gelungen ist, uns durcheinander zu bringen. Nicht nur der Kater, nicht nur der Leser, auch er selbst ist in diesem wundersamen Gedicht.
John Ashbery: " Eine Welle. Gedichte 1979 bis 1987". Aus dem Amerikanischen von Joachim Sartorius. Mit einem Nachwort von Klaus Martens. Edition Akzente im Hanser Verlag, München 1985. Vergriffen.
Von Joachim Sartorius ist zuletzt erschienen: "Die Versuchung von Syrakus". mareverlag, Hamburg 2023. 192 S., geb.
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