Wow wow wow - was für eine extraorbitante, augenöffende und erschreckende Leseerfahrung! Bettina Balaka widmet sich mit ihrer Essaysammlung Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen dem Leid der Tierwelt, oft hervorgerufen durch unsere Spezies: dem Menschen.
Viele Tiere in Zoos bekommen Antidepressiva oder Beruhigungsmittel, es gibt Berichte über den Tiergarten Nürnberg, die offenlegen, dass die dortigen Delfine im Delfinarium Valium verabreicht bekommen - was ist das nur für eine Welt, in der wir leben?! Auf ebensolche Zustände ist die Schriftstellerin Bettina Balaka gestoßen, als sie sich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Tierwelt beschäftigte.
Mit einem Verweis auf Rilkes Der Panther beispielsweise möchte sie aufmerksam machen auf die Auswirkungen des Eingesperrtseins der Tiere, das nicht selten stereotypische Verhaltensweisen hervorruft - ein klarer Ausdruck von tierischer Depressivität, welcher mit Antidepressiva entgegengewirkt wird. Bevor Tiere also schwer depressiv in der Ecke sitzen und nichts mehr essen, gibt man ihnen Stimmungsaufheller, was natürlich mitunter auch deren Aktivität erhöht und genau das wollen doch die Zoobesucher auch sehen: Aktive Tiere! Und zur Vermeidung von tierischer Aggressivität und Angriffen gegeneinander - was kann man da bloß machen? Man gibt ihnen natürlich Beruhigungsmittel! In den Zoos ist die Gabe solcher Mittelchen übliche Praxis im Rahmen einer tierärztlichen Behandlung. Doch ist das wirklich legitim?! Viele Menschen sind auch auf Psychopharmaka angewiesen - aber kann man das wirklich vergleichen? Denn die tierischen Verhaltensweisen, die medikamentöser Behandlung bedürfen, sind ja erst durch die Haltung der Tiere zum Bestaunen durch den Menschen, nötig geworden. Tun wir denn den Tieren nicht eigentlich etwas Gutes, indem wir durch die Haltung in Zoos zur Arterhaltung und zum Artenschutz beitragen?! Dies bedarf einer starken Hinterfragung, denn gleichzeitig werden die natürlichen Lebensräume der Tiere ja zerstört. Balaka macht bewusst, dass es nicht nur darum geht genetisches Material zu erhalten, sondern dass die Tiere auch eine Kultur weitergeben von Generation zu Generation, die aber auf diese Weise verloren geht.
Aber was kann denn nun am Bestaunen der Tiere so falsch sein?!
Balaka macht klar, dass auch eine Zeit gab, in der man exotische Menschen in Zoos bestaunen konnte - was heute (zurecht!) als abgrundtief falsch verteufelt wird.
Ambivalenzen und kognitive Dissonanzen spielen eine große Rolle in Balakas Werk - wie zum Beispiel der Umstand, dass fortschreitend Regenwälder abgeholzt werden, aber gleichzeitig der Tourismus in ebensolche boomt. Klar, es geht ums Geschäft, um Arbeitsplätze, Macht und letztlich den Kapitalismus - was aber alles keine Legitimierung für einen derartigen Umgang mit den Ressourcen der Natur darstellt. Und so zeichnet sie literarisch auch ihren Weg vom genießenden Fleischesser hin zum Vegetarismus nach.
Besonders gut gefallen hat mir das Kapitel In andere Häute schlüpfen: Empathie in der Literatur, wo sie u.a. auf Thomas Manns autobiografischer Erzählung Herr und Hund - Ein Idyll Bezug nimmt, in der ein Hund darauf trainiert werden soll über ein Stöckchen zu springen, was er aber nicht begreift und daraufhin hart bestraft wird. Empathie gegenüber dem Hund ist hier leider Fehlanzeige - doch woran liegts? Sicherlich gibt es eine Überschreitung der Grenze zwischen Mensch und Tier - der Mensch versucht sich erfolglos ins Tier zu versetzen, denn das ist schlichtweg der falsche Ansatz. Der Mensch versucht sich in den Hund als Mensch hineinzuversetzen, aber wäre es nicht hilfreicher und sinnvoller sich in den Hund als Hund hineinzuversetzen?! Anthropomorphismus at its best!
Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen war für mich ein Highlight auf so vielen Ebenen - ich habe viel Neues gelernt (selbst als Medizinerin wusste ich nicht, dass die Verabreichung von Psychopharmaka an Zootiere übliche Praxis ist), mir wurden die Augen geöffnet, ich war erschüttert, aber vor allem bin ich eins: Dankbar! Danke Bettina Balaka für solch erhellende Lesestunden, die mich sowohl inhaltlich, aber auch sprachlich absolut begeistern konnten. Ich hoffe, dass das Buch in ganz viele Hände wandern und Köpfe eindringen wird - absolute Leseempfehlung!