Thomas Manns Kampf um die Demokratie
Thomas Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer, denkt und schreibt, bewusst und gewollt entfernt vom störenden Tagesgeschehen um ihn herum. So wird uns der große Autor in vielen Büchern gezeigt. Aber da fehlt eine wichtige Facette, sagt Kai Sina: Thomas Mann war auch ein politischer Aktivist, der mit Leidenschaft dafür eintrat, dass es in der Verantwortung eines jeden liegt, Politik nicht nur zu erleiden, sondern sie zur eigenen Sache zu machen. "In unsere Hände ist er gelegt," rief er 1922 den Gegnern des demokratischen Staates zu, "in die jedes Einzelnen".
Wie in einem Brennglas spiegelt sich Thomas Manns äußerst facettenreiches politisches Engagement in der Debatte um den Zionismus. Schon in den Zwanzigerjahren war er Mitglied in einem prozionistischen Unterstützerverein. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich mit Nachdruck für die Gründung eines jüdischen Staates ein, der den Überlebenden der Shoah - deren Schrecken und Ausmaß Thomas Mann als einer der ersten Intellektuellen vor aller Welt benannt hatte -, eine sichere Heimstätte bieten sollte. In Kai Sinas meisterhaft geschriebenem Porträt tritt uns dieser zu wenig bekannte Thomas Mann eindrücklich, lebhaft und in seiner ganzen Menschlichkeit vor Augen.
Besprechung vom 21.01.2025
Wehrhafter Geist
Läuterung in seinem zweiten Kriegserlebnis: Kai Sina widmet sich der Rolle Thomas Manns als politischer Aktivist.
Kai Sina beschreibt Thomas Mann als politischen Aktivisten. Das überrascht zunächst, denn den Autor können wir uns in seiner Zurückgezogenheit am Schreibtisch vorstellen, kaum aber als Redner auf einer Massenversammlung. Das will Sina korrigieren. Die Jahre des Zweiten Weltkriegs verbrachte Mann im amerikanischen Exil, und dort trat er unzählige Male vor großem Publikum auf, prangerte die Verbrechen der Nazis an - oft mit scharfen, ungezügelten Worten, die man bei ihm nicht erwartet.
Das ist umso erstaunlicher, als er in den Jahren 1915 bis 1918 die "Betrachtungen eines Unpolitischen" schreibt, sein Hohelied auf Deutschlands "Kultur" im Kampf mit der angeblich minderwertigen "Zivilisation" des Westens. Auch Thomas Mann wurde, wie viele andere Intellektuelle, im Ersten Weltkrieg zum Chauvinisten, gerierte sich als unpolitisch und blamierte sich dabei.
Die "Betrachtungen" sind ein verfängliches Buch, und um die Klippe zu umschiffen, stellt Sina seinen Ausführungen dazu jene Antwort voran, die Mann 1907 auf eine Rundfrage zur Rolle der Juden in Europa gab. Die Juden seien ein "Kultur-Stimulus", befand er und positionierte sich damit als "Philosemit" gegen die Antisemiten im Kaiserreich.
Schon den jungen Thomas Mann stellt Sina als liberal dar und macht das an seinem Verhältnis zu den Juden fest. Gleich darauf, im Kapitel über die "Betrachtungen", äußert Sina die Hypothese, der Autor sei auch da noch liberal gewesen, habe aber eine Kunstfigur erfunden, der er chauvinistische Sentenzen in den Mund legte. Das Argument ist fragwürdig, und es lohnt sich, einen zweiten Blick auf die Rundfrage des Jahres 1907 zu werfen.
Auch der Philosemit, bemerkt Sina zu Recht, markiere den Juden als "Fremden", freilich unter umgekehrtem Vorzeichen: Den Deutschen bringe er nicht Schaden, sondern Nutzen. Das mochte im wilhelminischen Deutschland als liberal gelten, aber bei Thomas Mann war es mehr als eine nur theoretische Frage. 1905 hatte er Katia Pringsheim geheiratet, eine Tochter aus reichem Haus, deren Vater Alfred, ein Mathematikprofessor und Kunstmäzen, Jude war.
Solche Familienverhältnisse bleiben bei Sina eher im Hintergrund. Er merkt zwar an, dass Mann 1907 die schon vereinbarte Veröffentlichung der Erzählung "Wälsungenblut" zurückgestellt habe, um sich in der Familie nicht durch ihren antisemitischen Schluss zu kompromittieren, doch von einem Autor, der die Materie so gut kennt wie Sina, hätte man gerne mehr darüber gehört.
Wie stand Thomas Mann zu seiner Verwandtschaft - nur wohlwollend philosemitisch oder wie ein Mitglied der Familie? Katias Vater war kein observanter Jude mehr und ließ seine Kinder evangelisch erziehen. Auch die Mutter entstammte einer jüdischen Familie, die aber schon im frühen neunzehnten Jahrhundert konvertiert war. "Tommy's unerträgliche Politik", trug sie 1916 in ihr Tagebuch ein, und Sina wählt dieses Zitat als Titel für sein Kapitel über die "Betrachtungen eines Unpolitischen". Aber dann geht er nicht weiter darauf ein, und über die Spannungen, die innerhalb dieser liberalen Familie mit jüdischem Hintergrund geherrscht haben müssen, hören wir nichts.
Thomas Manns Leben ist nicht weniger komplex als sein literarisches Werk, und Sina neigt dazu, manches zu vereinfachen. Um zu zeigen, wie er zum politischen Aktivisten wird, stellt er die Dinge zuweilen geradliniger dar, als sie gewesen sind. Ein Beispiel ist der Bruderzwist im Kern der "Betrachtungen eines Unpolitischen". Viele der chauvinistischen Äußerungen in diesem Buch, die auch seiner Schwiegermutter unerträglich waren, richtete er gegen den Bruder Heinrich. Politisch war dieser Thomas weit voraus, Heinrich Mann gehörte zu den wenigen Intellektuellen, die den Weltkrieg von Beginn an verurteilten, nicht erst im Rückblick, als es zu spät war. Den Streit der Brüder erwähnt Sina mehrmals. Ausführlich aber kommt er auf ihn erst in einem späteren Kapitel zu sprechen, als Thomas Mann seine chauvinistische Phase schon überwunden hat und zum Verteidiger der Weimarer Republik geworden ist.
Sina beschreibt, wie das politische Bewusstsein Thomas Manns sich in turbulenten Zeiten veränderte. Die familiären Zusammenhänge aber lässt er im Dunkeln, und das hat seinen Preis. Im Jahr 1921 bat man Thomas Mann noch einmal, sich zur jüdischen Frage zu äußern, den schon geschriebenen Text zog er jedoch zurück, und Sina vermutet, dass Katia ihn dazu bewogen hat. Der Autor der "Betrachtungen", so glaubte man auf der politischen Rechten, gehörte zu ihrem Lager. Wenn er sich jetzt für die Juden einsetzte, drohte er bei den Antisemiten Anstoß zu erregen, und das, so schreibt Sina, "wollte Katia mit ihrem Einspruch verhindern, wie es wahrscheinlich auch ihr Mann wollte, ohne es sich einzugestehen".
Das Argument ist hintergründig. Es macht die Zweideutigkeit einer deutsch-jüdischen Existenz am Vorabend der Katastrophe spürbar, in die auch Thomas Mann verstrickt ist, aber Sinas kurze, feuilletonistisch geschriebene Kapitel deuten das nur an, sie gehen nicht genügend in die Tiefe.
In der Weimarer Republik rückte Mann von seinen Positionen in den "Betrachtungen" ab. Er begann, den Joseph-Roman zu schreiben, dessen vier Bände zwischen 1933 und 1943 erschienen, und während Hitler die Welt ins Unglück stürzte, gestaltete er die Geschichten der Bibel als Gegenmythos zur NS-Ideologie. Politisch jedoch hielt er sich nach der Machtergreifung eher zurück, und dass er zunächst ins europäische Exil ging, sieht auch Sina ambivalent. Selbst den Essay "Bruder Hitler", den Mann noch im Jahr 1938 schrieb, erwähnt er nicht.
Festen Boden erreicht die Darstellung erst, als Thomas Mann nach Amerika kommt und der Zweite Weltkrieg beginnt. Hitler lässt seine Masken fallen, und im Schutz der Vereinigten Staaten kann Mann jetzt als unerbittlicher Gegner des Dritten Reichs in den Kampf ziehen. Er tut es unermüdlich, fährt von Stadt zu Stadt und hält Vorträge, spricht im Radio zu den "deutschen Hörern". Diese Kapitel, informativ und lebendig geschrieben, bilden den Höhepunkt der Studie.
Ein Ziel des Buchs aber bleibt unerreicht. Er wolle, so schreibt Sina, Manns Verhältnis zum Zionismus beleuchten, das bisher kaum bekannt sei. Zu seiner Überraschung habe Mann die jüdische Nationalbewegung immer befürwortet, doch leider fundiert er diese Entdeckung nicht genügend.
Manns Leben und Werk kennt Sina sehr gut, und wenn er nicht alles sagt, so weiß er doch, was er verschweigt. Mit der komplexen Geschichte des Zionismus aber ist er nicht vertraut, er kennt sie nur aus zweiter Hand und verpasst hier eine Gelegenheit, die Forschung zu bereichern.
Seine Recherchen betrieb er teilweise in Amerika. Einmal ging er dort in einen Buchladen und stellte wehmütig fest, dass sich kaum etwas von Thomas Mann fand, sehr viel dagegen von Hannah Arendt. Er hätte gut daran getan, in einige ihrer Texte zu schauen. Die Jahre vor der Gründung Israels, in denen die zionistische Bewegung ihre entscheidende Wende nahm, hat sie aufmerksam verfolgt und dabei vieles festgehalten, was Kai Sinas Studie zugutegekommen wäre. JAKOB HESSING
Kai Sina: "Was gut ist und was böse". Thomas Mann als politischer Aktivist.
Propyläen Verlag,
Berlin 2024.
304 S., geb., Abb.
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